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„Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie.“ Heraklit
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Der Wahrheitsgehalt postmoderner Ideologie, der sie erst so beliebt macht, besteht darin, dass die Fähigkeit zum Objektbezug in den als Fragmente ihrer selbst fortwesenden Subjekten verloren zu gehen droht. Das aber frisst nicht nur die Möglichkeit von Kritik, sondern von Freiheit selbst an. Ebendies hat Michel Foucault mit dem untrüglichen Spürsinn des Denunzianten in 'Die Ordnung der Dinge' mit dem bekannten Bild beschrieben, der Mensch werde verschwinden wie ein Gesicht im Sand am Meeresstrand. Das Bild leuchtet, unbeabsichtigt und deshalb umso deutlicher, über die Denunziation hinaus, in deren Namen es beschworen wird. Dass es das Antlitz der Menschheit, die es noch gar nicht gibt und die allenfalls intermittierend in der flüchtigen Schönheit der einzelnen Menschengesichter aufscheint, von der Geschichte, die stets Naturgeschichte blieb, weggewaschen zu werden droht wie ein Gesicht im Sand, ist keine böse Erfindung gegenaufklärerischer Ideologen, sondern reale Möglichkeit. Auf deren Erkenntnis im Namen der befreiten Menschheit zielt die negative Anthropologie der Dialektik der Aufklärung. Anders als dem Existenzialismus, dem die Entscheidung zur Freiheit jederzeit möglich scheint, bleibt ihr bewusst, dass die Wirklichkeit von Freiheit, das Überfälligste und Unwahrscheinlichste von allem, eine Frage historischer Konstellationen und damit des jeweiligen Augenblicks ist, der sich nicht nach subjektiven Belieben wiederholen lässt. Das Bewusstsein um die Möglichkeit, dass es schon (oder längst) zu spät sein könnte, unterscheidet rettende Kritik daher von allen Varianten erbaulicher Subjektaufrüstung. Wie man in glücklichen Momenten beim Anschauen eigener Kinderfotos im eigenen frühen Gesicht ausnahmsweise nicht die gegenwärtige Visage wiedererkennt, auf die Onkel und Tanten einen festlegen wollen, sondern die Züge dessen aufleuchten sieht, was man hätte werden können, aber nicht geworden ist, so entziffert rettende Kritik die vergänglichen Konstellationen gegenwärtiger Erfahrung als Chiffren der vom Verschwinden bedrohten Möglichkeit. Im Gesicht im Sand, das als albernes Ornament diffamiert wird, entdeckt sie die Kinderhand, die es zeichnete, ohne zu wissen, was sie meinte: intentionsloses Glück als wahre Intention der freien Menschheit.

Magnus Klaue

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“Der Deutsche hat seine Freiheit der Gesinnung, und daher merkt er nicht, wenn es ihm an Geschmacks- und Geistesfreiheit fehlt.”

Als Horkheimer darüber schrieb, worin sich der “Prozeß der Zerstörung der westlichen Kultur” zeige, nannte er an erster Stelle die “Negation aller vergangenen Kunst durch das, was sich heute Kunst nennt”. - Die sich einstmals mit Hammer und Zirkel jener Aufgabe widmeten, wussten Goethe immerhin noch zu vereinnahmen, wofür er ihnen auch durchaus einiges anbot. Die ‘Avantgarde’, die heute mit Propellermütze und Toilettenpapier antritt, spart sich das mit dem Lesen einfach komplett: Die hier zelebrierte Emanzipation ist eine von der konzentrierten Lektüre, zu deren Unfähigkeit sich zu bekennen nicht im entferntesten so peinlich wäre wie die hier zur schau gestellte ‘Negation’ - muss dies doch im Gegenteil am Beginn einer Negation von dem stehen, was den gegenwärtigen Geisteszustand ausmacht. Wer vor den Bergen westlicher Kultur seine eigene Beschränkheit eingesteht und daraus nicht demütige Tatenlosigkeit folgen lässt, sondern Antrieb schöpft, steht wahrer Emanzipation näher als jene, die sich aus infantilem Narzissmus bereits über den Wolken wähnen, während sie im postmodernen Tal der Ahnungslosen hocken, das nicht mal mehr einen staatlichen Grenzschutz nötig hat.

Das Weimarer Goethehaus ist übrigens sehr zu empfehlen, verbinden kann man einen Besuch mit der Besichtigung der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek.

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Bravo. Es hat etwas gedauert, aber ein gewisser Herr Adorno wurde nun also offiziell eingemeindet. Da helfen auch ein paar pseudo-feministische Stümpereien nichts mehr. Dank Gemeinschaftsarbeit von Adorno-Archiv, Suhrkamp und Volker Weiß hat er nun zwischen nordischem Krimi und Populärwissenschaft Asyl gefunden. - ‘Doch warum eigentlich?’, fragt man und schaut sich ein paar Artikel an: Na klar, das Buch liest sich “wie ein Kommentar zum Aufstieg der AfD”, “wie ein direkter Kommentar zu Methode und Ideologie der Rechten seit 2015″, womit es “überraschend aktuell”, ja “aktuell wie nie” ist. Schließlich “schärft er den Blick für ein Phänomen, das heute selten beim Namen genannt wird“ - wer redet und schreibt schon aktuell vom Rechtsextremismus, eben.

Aber Mensch, da saß der staubige Teddy so lange in der Vitrine .. Es kamen ja immer mal Studenten vorbei, aber die gingen auch recht schnell wieder. Diese Themen, dieser Stil, so altbacken. Manchmal muss man doppelt lesen. Und überhaupt, die Zeiten haben sich eben geändert. .. Aber nun hat man ihn so schön und hip angemalt, und da bleibt man auch gern mal länger stehen. Dazu ein Info-Text, ein bisschen Multi-Media. Macht richtig Laune. Und Vielfalt gibt’s auch gleich dazu: Denn hier sieht man “nur einen von vielen Adornos”. Im bunten Adorno-Land, kann man dabei viel entdecken - unter anderem auch das “Einhorn der Kritischen Theorie”, dieses ‘Nichtidentische’ nämlich. Ihr wisst schon, keiner hat’s gesehen und irgendwie ist es magisch.

Das Niveau solcher Ergüsse verlangt konsequenterweise einen Lach- oder Zwinker-Smiley, und es fragt sich, wann die Journaille auch noch dazu übergeht. Doch bevor sich die dauerinfantilen Neuhippies daran machen, wagen sie sich also erstmal ein wenig ins Adorno-Land - eigentlich eine schöne Metapher: Durch ein fremdes geistiges Gebiet, das man mit der eigenen, bunten Brille nur als Wunderland wahrnehmen kann, schlendern die postmodernen Lumpenproletarier so unverbindlich umher, wie es ihrem Kurztakt-Hirn eben angemessen ist - freilich keine Lumpen sammelnd, sondern nur den nächsten glitzernden Schrott für die ganz persönliche ‘trashcan of ideology’ (Zizek).

Doch was ist das nun, was nimmt man inhaltlich mit von ‘diesem’ Adorno?

z.B.: "Den Nationalismus betrachtet er als «Versuch der Selbstbehauptung inmitten der Integration». Wer dächte dabei nicht an die Länder, die sich von der Europäischen Union abwenden?” Oder: Wer denkt bei Neonazis nicht an Polen, eben. (In diesem Sinne: Wollen die arabischen Staaten nicht auch einfach nur Israel ‘integrieren’?) Wer das nicht tut? Kann kein Deutscher sein.

Oder: “Die Philosophie nimmt er ausdrücklich in die Pflicht. Kontemplation verändere nicht die Welt. Zuschauer, die nur kritisieren, hält er für feige, man müsse sich engagieren.” Laptop zu und ab zur nächsten Demo, immer schön ‘Engagement’ zeigen und hier nicht ‘feige’ rumphilosophieren - hat der Teddy gesagt. Dafür muss man auch nicht seine blöden Wälzer da lesen, in solchen Vorträgen kommt man ja viel “unmittelbarer als in den sagenumwobenen Hauptwerken“ an den dialektischen Adorno heran. Das wissen gerade die Journalisten ganz genau, die Sätze mit “Es wäre in seinem Sinne..” einleiten oder mit “..eine seiner aufregendsten Thesen..” ausschmücken. Immerhin sind sie dabei so ehrlich, wie Bauchredner des Affekts es eben sind: Man freut sich so, dass bei den ganzen ‘Highlights’ im Text “die materialistischen Erklärungen zur ‘Konzentrationstendenz des Kapitals’ in den Hintergrund rücken”. Freilich, denn wer Materialismus sagt, sagt Zeitkern, und dann wird es mit Vorträgen über damals aktuelle politische Bewegungen etwas schwierig mit dem ‘aktuell wie nie’. Und vom Kapital fangen wir erst gar nicht an..

Aber gut, eine Adorno-Renaissance steht ja nun auch nicht bevor. Denn seien wir mal ehrlich, er bringt natürlich “keine fundamental neuen Erkenntnisse“. Man freut sich einfach, dass es der alte Herr doch mal auf unser heutiges Niveau geschafft hat. Er gibt eben eine nette “Einladung zum Weiterdenken“, eine Art kleines geistiges Sprungbrett für uns Freidenksportler, bevors zum nächsten geht. - Und so ist auch klar: Übermorgen wird alles vergessen sein. Adorno sitzt wieder in der Vitrine. Die nächste muss gestylt werden. Eventuell wird er irgendwann wieder so bunt daherkommen, vielleicht auch nochmal als männlicher, rassistischer (’Neger’) oder homophober Adorno auftreten.

Aktuell aber kann es noch passieren, dass bunte Neudeutsche in tiefsinniger Pose den Buchdeckel schließen und sich fragen: “Kann man es zuversichtlicher, kraftvoller, aktueller sagen?” Mit ‘es’ meint man das, was man vorher schon wusste. Mit dem Rest meint man, dass man eh nur liest, was man lesen will. Der durchschnitts-deutsche Feingeist hätte sicher einmal anders auf solch einen Vortrag reagiert - etwa, wäre er 1992 veröffentlich worden. Das ist nun kein Argument für eine politisch-taktische Veröffentlichung unter anderen Vorzeichen, sondern ein Hinweis darauf, dass der Text nur so Erfolg haben kann, da die Zeit ihm seiner negativen Kraft für heutige Verhältnisse weitestgehend beraubt hat. (Was etwas über diese, nicht über Adorno sagt.) Bei unserem neudeutschen Leser wird es daher kaum zur “Stichflamme” kommen, die die Konturen des Ganzen erhellt, und das schablonenhaft Rezipierte so nur als weiterer Leuchtstab dienen, den die gesamtdeutsche Lichterkette ‘gegen rechts’ in den Himmel streckt.

Zum Abschluss:

“Mitschnitten seiner Vorträge und Vorlesungen stand Adorno kritisch gegenüber. [...] Das Adorno-Archiv setzt sich seit Jahren darüber hinweg und hält ihn damit noch 50 Jahre nach seinem Tod lebendig. Ein erfüllteres Nachleben kann sich ein Autor kaum wünschen.” Den Wunsch eines Autors erfüllen, indem man sich gegen ihn wendet - das muss diese Dialektik sein. Eine solche mit dem Namen Adorno in Verbindung zu bringen, ist wahrlich eine Leistung des Archivs, das in der Taxidermie sicher besser aufgehoben wäre.

Es folgt Adornos Vorbemerkung zu ‘Kultur und Culture’ (1958). Etwas Ähnliches - zumindest soweit ich das sehe - vermisst man im neuen Buch: Bei dem künstlich auf 50 Seiten gestreckten Text und einem 30 Seiten umfassenden Nachwort war wohl einfach kein Platz mehr für solche Ausführungen.

„Wo ein Text genaue Belege zu geben hätte, bleiben dergleichen Vorträge notwendig bei der dogmatischen Behauptung von Resultaten stehen. Er [der Redner, Adorno] kann also für das hier Gedruckte die Verantwortung nicht übernehmen und betrachtet es lediglich als Erinnerungsstütze für die, welche bei seiner Improvisation zugegen waren und welche die behandelten Fragen selbständig weiterdenken möchten auf Grund der bescheidenen Anregungen, die er ihnen übermittelte. Darin, dass allerorten die Tendenz besteht, die freie Rede, wie man das so nennt, auf Band aufzunehmen und dann zu verbreiten, sieht er selbst ein Symptom jener Verhaltensweise der verwalteten Welt, welche noch das ephemere Wort, das seine Wahrheit an der eigenen Vergänglichkeit hat, festnagelt, um den Redenden darauf zu vereidigen. Die Bandaufnahme ist etwas wie der Fingerabdruck des lebendigen Geistes. Indem der Autor von der liebenswürdigen Bereitschaft der Kursleitung Gebrauch macht, all das unumwunden auszusprechen, hofft er, wenigstens einigen der Mißdeutungen vorzubeugen, denen er sonst unweigerlich sich aussetzt.“

[ Zitat-Collage aus:

Screenshot: booklooker ]

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Es ist um so populärer, auf die Philosophie loszuziehen, mit je geringerer Einsicht und Gründlichkeit es geschieht; die kleinliche widrige Leidenschaft ist faßlich in dem Wiederklange, der ihr in anderen begegnet, und die Unwissenheit gesellt sich mit gleicher Verständlichkeit dazu. Andere Gegenstände fallen in die Sinne oder stehen in Gesamtanschauungen vor der Vorstellung; es fühlt sich die Notwendigkeit eines wenngleich geringen Grades von Kenntnis derselben, um über sie mitsprechen zu können; auch erinnern sie leichter an den gesunden Menschenverstand, weil sie in bekannter, fester Gegenwart stehen. Aber der Mangel an allem diesem legt sich ungescheut gegen die Philosophie oder vielmehr gegen irgendein phantastisches leeres Bild los, das die Unwissenheit von ihr sich einbildet und einredet; sie hat nichts vor sich, an dem sie sich orientieren könnte, und treibt sich so völlig in Unbestimmtem, Leerem und damit in Sinnlosem herum. [...] Es ist des unberufenen Herzudringens zum Geschäfte der Philosophie oben gedacht worden; wie dasselbe sich um so lauter macht, je weniger es geeignet ist, teil daran zu nehmen, so ist die gründlichere, tiefere Teilnahme einsamer mit sich und stiller nach außen; die Eitelkeit und Oberflächlichkeit ist schnell fertig und treibt sich zum baldigen Dreinsprechen; der Ernst aber um eine in sich große und nur durch die lange und schwere Arbeit vollendeter Entwicklung sich genügende Sache versenkt sich lange in stiller Beschäftigung in dieselbe.

G. W. F. Hegel

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Die erstaunliche Tatsache, daß die Unabhängigkeitserklärung sofort ein wahres Fieber von Verfassungserlassen in den dreizehn Kolonien hervorrief, zeigt schlagartig, wie sehr sich bereits vor Ausbruch der Revolution in der Neuen Welt ein völlig neuer Begriff von Macht und Autorität und völlig neue Vorstellungen von Politik überhaupt durchgesetzt hatten [...] Diejenigen, welche die verfassunggebende Macht erhielten, waren die regulär gewählten Vertreter konstituierter Gemeinden; sie waren von unten gewählt, nicht von oben ernannt, und wenn sie sich an das alte römische Prinzip hielten, daß alle Macht beim Volk liegt, so war dies für sie keine Fiktion und das Volk für sie nichts Absolutes – die Nation, die über den Gesetzen und über allen weltlichen Autoritäten thront –, sondern eine gegenwärtige Realität. Das Volk war für sie eine in Organisationen und Institutionen zusammengefaßte Menge von Menschen, die gewöhnt war, ihre Macht gemäß bestimmten Regeln und im Rahmen von Gesetzen auszuüben. Die von den amerikanischen Revolutionären so oft betonte Unterscheidung von Republik und Demokratie basiert auf einer radikalen Trennung von Gesetz und Macht, die jeweils verschiedenen Ursprüngen entstammen und daher ganz verschiedene Arten der Legitimaton erfordern und verschiedene Anwendungsbereiche betreffen. Es war das Verdient der Revolution, daß sie diese neuen amerikanischen Erfahrungen auf dem Gebiet der Politik, vor allem auch den neuen amerikanischen Machtbegriff, zutage förderte. [...] Der Machtbegriff [...] geht zurück auf den Mayflower Pakt, der bekanntlich noch auf dem Schiff entworfen und bei der Landung unterzeichnet wurde. […] [D]ie Auswanderer [hatten] Angst vor einer Art Naturzustand, vor der unberührten Wildnis, die grenzenlos vor ihnen lag, und vor der unbegrenzten Initiative von Menschen, die keine Gesetze mehr in Schranken hielten. Die Furcht zivilisierter Menschen, die aus gleich welchen Gründen beschlossen haben, der Zivilisation den Rücken zu kehren und gleichsam von vorne zu beginnen, ist berechtigt genug. Was an der Geschichte so überraschend großartig ist, ist nicht die Furcht, die sie voreinander hatten, sondern vielmehr, daß diese Furcht von einem nicht weniger offenbaren Vertrauen in die Wirksamkeit der eigenen Macht begleitet war, da ja diese Macht erst einmal von niemanden garantiert oder bestätigt und auch nicht durch Gewaltmittel irgeneiner Art geschützt war. Sie, so wie sie da auf dem Schiffe waren, ein zusammengewürfelter Haufen, verfügten über die Macht, sich zusammenzutun und einen 'civil Body Politick' zu etablieren, der von nichts zusammengehalten war als dem Vertrauen auf die Kraft gegenseitiger Versprechen, die sie sich abgaben 'in Gegenwart aller und unter den Augen Gottes'; das sollte genug sein, sie zu ermächtigen, alle notwendigen Gesetze und Regierungsorgane 'zu verordnen, zu konstituieren und zu entwerfen'.

Hannah Arendt

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Ein wunderbarer Artikel über die Reise im tschechischen Eurocity:

“Mit dem Eintritt in den Speisewagen ist jedes Mal ein Gefühl des Aufbruchs verbunden, so kurz und profan die Reise auch sein mag; das weinrote Interieur, die Glasvitrine zwischen Gastraum und Küche mit den aufgereihten Wein-, Sekt- und Pepsi-Cola-Flaschen (eigentümlicherweise noch mit dem alten Logo versehen) strahlen eine Großzügigkeit aus, die dem Passagier das Gefühl gibt, alles sei plötzlich möglich. Berlin, Dresden, Prag; warum nicht gleich weiter nach Wien, über den Balkan nach Belgrad, Richtung Istanbul oder Odessa? Die Zauberkraft dieses Ortes überblendet die eigene Reise mit den Eisenbahn-Bildern der Literatur; im Speisewagen des tschechischen Eurocity lebt eine Ahnung vom alten Orient-Express weiter, wie er in den Romanen Graham Greenes und Agatha Christies beschrieben ist, von Jonathan Harkers Abenteuern, der zu Beginn von Bram Stokers Dracula von München aus nach Transsilvanien aufbricht. Wenn der abgedichtete Innenraum des ICE Zeit und Raum komprimiert, auf das reine Jetzt, dessen möglichst rasche Überwindung der Passagier herbeifiebert, geschieht hier das genaue Gegenteil: In diesem Speisewagen weitet sich augenblicklich das Herz, und im Schein der silbernen Leuchten entstehen Vorstellungsbilder von fernen Orten.”

“Auffällig ist immer wieder, wie stark sich das Publikum in diesem Speisewagen von dem in den deutschen Bordrestaurants unterscheidet. Vor allem auf der notorischen Powerpendler-Strecke zwischen Hamburg und Berlin gibt es in den ICEs morgens und abends kaum einen Vierertisch, der nicht von einer Gruppe Agenturmitarbeiter oder Vertretern des mittleren Konzernmanagements besetzt wäre. Mit aufgeklappten Notebooks bereiten sie ihre Präsentationen vor oder nach, trinken Latte macchiato mit betonhartem Milchschaum, und durch den Raum wirbeln die Sprachfetzen gegenwärtiger Business-Kommunikation: "Wollen wir das Zeitfenster von 14 bis 16 Uhr festhalten, oder was denken Sie?" – "Ich bin jetzt schon auf der Schiene der Lösungsorientierung." – "Das Meeting nachher fahren wir genauso." Im tschechischen Eurocity fehlt dieser Menschentyp, fehlen diese Verhaltens- und Sprechweisen vollkommen. Obwohl der Zug von Berlin nach Hamburg nur zwanzig Minuten länger benötigt als der schnellste ICE, herrscht hier auch in den Rushhours des Reisens eine ganz andere Atmosphäre. Keine selbstgefälligen Agentur-Konferenzen. Kein verzweifeltes Geschrei ins Smartphone, um ein seit zwanzig Minuten abgerissenes Gespräch doch noch fortzusetzen. Kein Lamento über die schlechte WLAN-Verbindung (zumal sie, wenn man an den Tischen beim Durchgang zur ersten Klasse sitzt, sogar viel zuverlässiger funktioniert als in den Zügen der Deutschen Bahn). Wie aber setzt sich das Publikum hier an einem gewöhnlichen Dienstagvormittag oder Donnerstagabend zusammen? Es ist vielleicht mit der Gästemischung der Wiener Ringcafés oder des alten Café Slavia am Prager Moldau-Ufer vergleichbar. [...] Und was erst mit Verzögerung auffällt: Unter den Sitzreihen und auf den kleinen Ablagen über den Tischen stehen so gut wie keine Rollkoffer. Dieser Ort zieht eher ein Reisetaschen-Publikum an, und das ist gut so.”

“Für Passagiere, die mit der Tristesse und der hermetischen Funktionalität heutiger Fernzüge hadern, gibt es seit vielen Jahren bekanntlich eine ganze Sentimentalitätsindustrie, die Erlebnisreisen in restaurierten Luxuszügen anbietet. Auf nostalgiereisen.de etwa kann man eine zweitägige Fahrt im original "Simplon-Orient-Express" von London über Paris nach Venedig buchen, mit exklusivem Speise- und Barwagen, für 4420 Euro pro Person in der "Cabin Suite". Nichts ist weiter vom Aufenthalt im tschechischen Eurocity entfernt als diese Offerten. Denn alle Sehnsucht nach der früheren Weltläufigkeit des Reisens löst sich augenblicklich auf, wenn ihm das Öffentliche, Fahrplanmäßige genommen wird und es im überteuerten Liebhabertum erstarrt.“

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Von heute aus betrachtet, entsteht der Verdacht, die ganze Studentenbewegung sei nur erfunden worden, um Sparkassenreklame zu illustrieren.

Joachim Bruhn (2008)

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[B]edingungslose Solidarität mit Israel [ist] etwas anderes als Identifikation, die in der Logik von Politik liegt und die notwendig mit Symbolen agiert, die in Polit-Kitsch umschlagen. Wenn Israel glaubt, seine Interessen u.a. damit am besten vertreten zu können, daß seine Botschaft den leidigen Knopfsticker in allen nur möglichen Varianten vertreibt: also in der Israel-Amerika-Version und in der Israel-Deutschland-Version, dann ist das der legitime Versuch, der antizionistischen Propaganda zu kontern, wenn auch wiederum mit Gegenpropaganda. Aber die Kritik treibt keine Propaganda, und sie ist auch keine Politik. Sie ist die Kritik der Politik, und ihre Solidarität ist eben die radikale Aufklärung. Eben deshalb, weil die Parteinahme der kommunistischen Kritik für Israel selbst keine Politik darstellt, ist sie auch nicht taktisch, läßt sie sich nicht von der politischen Konjunktur zum Opportunismus treiben.

Joachim Bruhn (2003)

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Das Sein bestimmt das Bewußtsein – nicht, zumindest nicht materialistisch. Denn der Materialismus schreibt sich nicht von der Materie her als vom Ersten, dem das Bewußtsein den Spiegel vorhielte, sondern von der in die negative Totalität des Kapitalverhältnisses gebannten Gattung. Der Materialismus ist keine Milieutheorie, kein Determinismus; überhaupt leitet er nicht ab. Er stellt kritisch dar. Er treibt, sagt Marx, Kritik durch Darstellung, d.h. die objektivierte Selbstreflexion der in sich verkehrten Gesellschaft im Horizont ihrer ultimaten Krise als ihrer definitiven Wahrheit. Der Materialismus ist so keine Ursprungsphilosophie, sondern das Selbstbewußtsein negativer Dialektik, nicht die Große Methode von Intellektuellen, die sich aufs Objekt anwendet, sondern Kritik, die die verdinglichte Immanenz des Objekts aufsprengt. Der Materialismus ist nicht, schon gar nicht in seiner kategorischen Position als Kommunismus, Organ eines Interesses, Agent einer Klasse, Kommissar eines Programms: deshalb taugt er weder zur Wissenschaft als Beruf noch zu deren Konsequenz: Politik als Beruf, weil er das Widervernünftige der kapitalisierten Gesellschaft nicht ins System schachteln und als Theorie vergolden mag. Materialismus ist der Antagonist von derlei Praktiken der Rationalisierung, dieses, wie Adorno sagt, Defaitismus der Vernunft. Schließlich ist der Materialismus keinesfalls Marxismus. Denn Marxismus ist vorkritisch, eine Option bürgerlicher Aufklärung. Marxismus ist zudem antikritisch, eine Strategie radikalbürgerlicher, jakobinischer Intellektualität. Wo der Materialismus der marxschen Kritik der politischen Ökonomie von Ideologie spricht, da hört der Intellektuelle penetrant Interpretation, Meinung, Manipulation: Dies, um sich zur professionellen Vermittlung von sog. Tatsachenurteilen und sog. Werturteilen zu ermächtigen. Das ist wesentlich autoritär. Nicht nur, weil der Intellektuelle das gesellschaftliche Unwesen verdoppelt, indem er sich verhält wie das Geld zur Ware, d.h. als Philosoph, der den gerechten Preis ausmittelt. Sondern auch, weil der philosophische Akt schon in der bloßen Form seines Urteils jenen Unterschied von Wesen und Schein setzt, wonach, ökonomisch betrachtet, der Gebrauchswert bloß Erscheinung des Werts und, politisch betrachtet, das empirische Individuum nur Ausdruck des juristischen Subjekts ist: faule Existenz. Schließlich ist Marxismus konterrevolutionär, denn das zu emanzipierende Wesen der Menschen ist keinesfalls Arbeit; wäre es so, ginge es tatsächlich um die Befreiung der Arbeit, würde die Repression des Besonderen durchs Allgemeine, des Individuums durch die Arbeitskraft fortgeschrieben, während doch freie Assoziation und endlich, so, wie Adorno in den Minima Moralia den Kommunismus glücklich definiert, die Einheit des Vielen ohne Zwang herrschen soll. Der Materialismus ist kein Marxismus, weil jedweder Marxismus seit Karl Kautsky und W.I. Lenin auf den barbarischen Satz Stalins führt Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen. Summa summarum ist der Materialismus kein Marxismus, weil er die marxsche Kritik der politischen Ökonomie beim Wort nimmt und damit als die Einheit von Kapitalkritik, Staatskritik und Ideologiekritik, als die sie von Anfang an gedacht war: Das ist die Quintessenz.

Joachim Bruhn (2003)

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Joachim Bruhn ist tot.

Nie habe ich ihn getroffen, nie auch nur ein Bild von ihm gesehen, und doch fühle ich mich ihm durch viele Texte, aber v.a. durch die dutzenden Stunden von Audio-Mitschnitten seiner ‘Verkaufsveranstaltungen’ sehr verbunden. Seine scharfe Polemik war deshalb so faszinierend, weil er ohne zu poltern so gnadenlos traf: Sie war ihm ein Florett - keine Dampframme, die er auch bei so manchem Gleichgesinnten am Werke sah.

Bruhn war zudem jemand, dem man noch ohne Pathos und Folklore attestieren konnte, Kommunist gewesen zu sein. Das hat mit dem zu tun, was einem von ihm trennte: Er wurde einst intellektuell geprägt von einer Atmosphäre an der Uni, wo Stalinisten und Maoisten im Seminar gegen den sozialdemokratischen Seminarleiter unerbittlich über Marx stritten - während mir die ersten Marx-Splitter in einem Zizek-Video präsentiert wurden, der mir bei einem Vortrag in der Medienwissenschaft zufällig in die Quere kam. Bruhns Weg führte in die K-Gruppen und die Verlagsredaktion, meiner in die Facebook-Gruppen und die Isolation. Ihn bremste die Kritische Theorie beim Höhenflug in den marxistischen Abstraktionen, mich brachte sie überhaupt erstmal dazu, ein Stück abzuheben. - Da so zu tun, als ‘sei’ man Kommunist, ist lächerlich - und deutlich zu scheiden von der Überzeugung, ob Kritik, die ihren Namen verdient, nicht als materialistische immer auf den Kommunismus zielt. Und ich denke doch, dass mein spezieller Werdegang weniger auf meine individuelle 'Unfähigkeit' zum ‘Kommunist-Sein’ verweist, als auf die aktuellen Zeitumstände, in denen dieses nun einmal anachronistisch ist. - Bei Bruhn hingegen ist es nur folgerichtig, dass er sich wohl für seinen Grabstein den Bakunin-Satz wünschte: “Die Revolution ist notwendig, also ist sie möglich.”

Wie überschrieb doch der einstige republikanische Politiker John McCain seinen Nachruf auf den letzten amerikanischen Spanien-Kämpfer Delmar Berg: ‘Salute to a Communist’!

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Vielleicht kommen Worte überhaupt gar nicht deshalb außer Gebrauch, weil ihrer lexikalischen Bedeutung keine Alltagserfahrung mehr korrespondiert, sondern weil die an sie geknüpften, im Alltag gar nicht präsenten Evokationen und Phantasien, die ihren Triebgrund bilden, in den Menschen auf nichts mehr treffen; weil ihrem Klang in den Menschen gleichsam nichts mehr entgegenkommt.

Magnus Klaue

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private Gedanken: Bruch

Und wieder ein Beweis, wie sehr man doch gedanklich dort versöhnend abbricht, wo ein konsequenter Fortgang liebgewonnene Einsichten zerpflücken würde: Einer der größten Widersprüche ist es so, sukzessiv einen grundsätzlichen Einstellungswandel zu vollziehen und dennoch nicht mit den bisherigen Wegbegleitern zu brechen, auch wenn dies jener mit gewisser Notwendigkeit implizieren müsste. So schleppt man die zu Beginn des Studiums gewonnenen Freunde mit, resignierend ob der Möglichkeit, neue zu finden und lässt die Ungereimtheiten über sich ergehen. Trotzdem geht es ja menschlich zu, trotzdem hat man viel zusammen erlebt, trotzdem lacht man zusammen. Aber mit Zunahme der entfremdenden Momente verringerte sich die gemeinsame Zeit immer mehr, und der Lebensmittelpunkt war schließilch eher die Bibliothek als der Freundeskreis. Lange war es ein ‘Geschehenlassen’: Manch eine/r zieht weg, manch eine/r verändert sich ihrer-/seinerseits und wechselt den Freundeskreis usw. - Doch irgendwann muss der Bruch kommen.

Die Fremdheit, die ich mit diesen Leute spürte, kannte ich aus sämtlichen sozialen Situationen, weswegen ich sie akzeptierte, wobei die üblichen Mittel der ‘Geselligkeit’ ihren Anteil hatten: Alkohol, Drogen und Events. (Dass man es für normal hält, wenn man unter denen ist, die man Freunde nennt, sich die Sinne vernebeln zu wollen oder etwas zu machen, was ein genuines ‘Miteinander’ vorneweg ausschließt: im Club monoton umherwanken, auf eine Bühne oder Leinwand schauen usw., und nicht für eine Warnung, verdiente nochmal eine extra Betrachtung). Rückblickend war man nicht unter Freunden, man lief nur vor sich weg und betrat eine Arena, in der man eine Rolle spielte. Dies taten die anderen auch, doch - so scheint es mir zumindest - war dieses Verhalten mehr mit ihrer Person durchdrungen, während mir der Widerspruch immer präsent war, weswegen es der obigen Mittel auch wirklich bedurfte, um das daraus resultierende Kramphafte abzulegen. Geschah dies aber nicht, saßen dort eigentlich sehr konturlose Menschen beieinander, die sich eine Zeit lang gegenseitig ertrugen, deren Verbindung eher wie etwas Konstruiertes wirkte, etwa durch den Bezug zu vergangenen Erlebnissen, die künstlich emotional aufgewertet wurden. - Klaue bezeichnete solche Menschen mal als jene, die sich selbst zu “Einzellern” machen, “die mit anderen Lebewesen allenfalls »interagieren« können, denen sonst aber humanoide Eigenschaften wie Empathie, Mitleid, Trauer, Fähigkeit zum Glück und zur Wahrheit abhanden gekommen sind”. Letzendlich hatte es sich genauso angefühlt: Einzeller stoßen sich qua Triebbefriedigung eine Zeit lang aneinander, bevor man wieder eigene Wege geht. Und solange dies erfüllt war, ließ man es weiterlaufen. Dies wirft natürlich auch ein Licht auf die eigene, verstümmelte Art, zwischenmenschliche Beziehungen anzugehen: Das Wissen, die Einsamkeit nicht zu ertragen, trägt einen mit Kalkül in die Arme solcher, die an dieser selbst ihren Anteil haben, die man selbst nicht mal als für eine innige Freundschaft geeignet ansieht - ganz rational gedacht, warenförmig. Dass es aber doch nur schlimmer hätte enden könne, hätte man mehr gewagt [hier stand bezeichnenderweise zuerst ‘investiert’..], sich mehr interessiert, mehr in den anderen gesucht, das kann man in bestimmten Umbruchsituationen [hier stand zuerst ‘Krise’..] sehen - solche also, wo man die von Klaue genannten ‘humanoiden Eigenschaften’ beweisen könnte bzw. müsste. Eine solchen Umbruch stellt es dar, wenn man im Kollektiv nicht mehr die Funktion erfüllt, die man vorher inne hatte: der unnahbare, ironische Typ, der immer dabei ist und mit Polemik und Absurdität dienen kann, dessen psychische Abstürze man aber eher nervig findet - die gruppeneigene ‘Grumpy Cat’, die man gern mal streichelt, aber im Fall der Falle doch vor die Tür bringt. - Nun aber, da ist er nicht mehr immer dabei, und wenn doch, ist er nicht mehr so düster, so hasserfüllt, da erzählt er sogar, er fühlt sich gut, gar irgendwie glücklich seit er nicht mehr alleine ist. Und plötzlich geht es los: Lügen und Geläster. Da wird untereinander erzählt, statt mit einem selbst geredet. Da kursieren Dinge und verselbständigen sich, die man einfach hätte klären können. Da merkt man plötzlich: Man wird gerade kontaktiert, um der anderen Seite Gesprächsstoff zu liefern, nicht weil diese sich um einen schert. - Das einzige, was unverändert blieb, war freilich die Anzahl der Smileys in den Kurznachrichten...

Horkheimer bezeichnete so etwas als “Umschlag”, der gerade in den Fällen erfolge, in denen “latente Aggression hinter äußerer Liebenswürdigkeit” sich verbirgt: “Unendlich viele Beziehungen sind solchem Umschlag nahe, ohne jedoch ihm ganz anheimzufallen.” - Dass solch Umschlag nahe war, konnte man erahnen. So meinte eine ‘Freundin’ während (!) eines mentalen Kollapses in einer alkoholreichen Nacht: ‘Ich würde das niemals so offen zeigen, ich denk da auch an die Gruppe. Mich macht das wütend, sowas.’ Erzählte ich z.B. von meinen Schlafstörungen, dass ich nicht vor 4 Uhr einschlafen kann etc., kam nur ein ‘Oh, das könnte ich ja nicht.’ oder ein ‘Ich schlaf zum Glück schnell ein.’ Keine Nachfrage o.Ä. - That’s it, 5 Jahre lang. Das stört sich keiner dran, da macht sich keiner groß Sorgen. Aber was ist der Affront, was bringt den ‘Umschlag’? Dass man nicht mehr als Hauskatze dient, das sorgt dafür, dass die Liebenswürdigkeit die Aggression nicht mehr halten kann. Dass man nicht mehr der ist, dessen Gesicht geprägt ist von den tiefen Augenringen, der immer mies drauf ist, der sogar mal einen unkontrollierten Weinkrampf hatte - dass man das nicht mehr ist, das ist kein Grund, sich zu freuen? Mal einen Schritt von der eigenen Person wegzugehen und zu sagen: ‘Auch wenn es mich hier negativ betrifft, es freut mich für ihn, weil ich um ihn als Mensch besorgt bin’ - etwas, dass man selbst ja trotz eigener Distanziertheit immer so gedacht hätte. Mal zu merken, wie selbstverständlich es ist, dass man - gerade in der Anfangszeit - viel Zeit mit der neuen Person an seiner Seite verbringt, ja, dass man es selbst genauso so macht? - Nein, nichts. Gott bewahre vor Reflexion. Reine, unkontrollierte Triebafuhr. Soziale Automaten, die sich am Laufen halten wollen. Einen wirklich kennen lernen, das ‘Unnahbare’ überwinden, das wollte keiner - aber wenn man einen Schritt aus dem Kreis hinaustritt, dann - und erst dann - zählt man plötzlich was: eben nicht als Individuum, sondern als Mitglied der Gruppe. Und wie diese sich am besten zusammenschweißt, sieht man dann, wenn sie untereinander über andere reden. - Was sind das nur für Leute? Und was bin ich für einer, der jahrelang keinen anderen Weg sieht, als auf ihrem Level mit ihnen zu verkehren?

Es bleibt bei dem, was sich die Protagonisten einer Novelle des frühen Horkheimer als Aufgabe stellten - etwas, dass nie mit diesen Leuten anzugehen gewesen wäre, was sie selbst wohl niemals angehen, was aber gerade durch den Bruch mit ihnen und jemanden an meiner Seite zu einem realerem Anliegen wird: “Wir arbeiteten weiter an jenem großen Problem, dessen Lösung wir unser Leben widmeten, wir arbeiteten daran, Menschen zu werden.”

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“Was der 9. November seit der Novemberrevolution, der Pogromnacht und der deutschen Wiedervereinheitlichung schon war, das ist, durch den islamfaschistischen Anschlag auf das World Trade Center, auch der 11. September geworden: ein Geschichtszeichen. Während 1973 der Putsch gegen die chilenische Unidad Popular der radikalen Linken das denkwürdige Bild eines Reformisten mit Kalaschnikow bescherte, und damit Träume wahr werden ließ, die heute nur noch Trotzkisten und andere Stalinisten umtreiben, stehen Ussama bin Laden und seine Kameraden für die Liquidation jeder Hoffnung. Während der Untergang Salvador Allendes, des letzten Sozialdemokraten, der die Dialektik von Reform und Revolution ernst zu nehmen schien, in allem Elend doch einen Lernprozess ermöglichte, ist bin Laden schon der Vorbote einer neuen Barbarei, bevor noch die alte, die der Nazis, in ihrer letzten Konsequenz begriffen wurde.“ - Joachim Bruhn (2002)

[Bild: US-Generalkonsulat in Leipzig]

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Die einzige geistige Kommunikation zwischen dem objektiven System und der subjektiven Erfahrung ist die Explosion, welche beide voneinander reißt, um mit ihrer Stichflamme sekundenweise die Figur zu beleuchten, die sie mitsammen bilden.

Theodor W. Adorno (via unstimmigeharmonie)

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Mal ein Beitrag vom Meister zum (alt-)deutschen Verständnis von Demokratie.

Clemens Nachtmann meinte zu Polt: “Überhaupt muss es einem auf scheinbar verlässliche Kategorien und verbindliche ‘Ansprüche’ erpichten theoretischen Bedürfnis systematisch entgehen, dass verbindliches Philosophieren heutzutage weder im philosophischen Seminar noch in außerakademischen philosophischen Zirkeln stattfindet, sondern in einer Unterhaltung, die ihrem Begriff gerecht wird, namentlich etwa in den Szenen und Vortragsstücken des Gerhard Polt, den ich ohne jedes Zögern als den bedeutendsten lebenden Gegenwartsphilosophen bezeichnen möchte. Mit traumwandlerischer Unbeirrtheit gelingt Polt nämlich etwas ganz Einfaches, was Adorno als Desiderat allen Philosophierens festhielt und worum sich viele kritische Theoretiker in ihren zähen, weitschweifigen und bräsigen Abhandlungen lebenslang vergeblich bemühen: ungeschmälerte Einsicht zu nehmen und mitzuteilen, das heißt zu erzählen, was einem an den Dingen aufgeht. Von Gerhard Polts Kunst könnte man lernen, dass man seiner Erfahrung mächtig werden kann nur, indem man sich vorbehaltlos dem Objekt überantwortet, ihm sich anschmiegt, ja sogar gleichmacht – was deshalb so überzeugend gerät, weil Polt sich den Objekten seiner Erfahrung ganz ohne explizite Absicht der Demaskierung, der Denunziation oder selbst der Kritik, sondern mit aller Imagination zuwendet, deren er fähig ist, und das Erfahrene nur so weit zusammenrückt und verdichtet, dass es als eine über sich hinaus aufs Ganze verweisende Figur lesbar wird. [Fußnote: „...die singulären und versprengten Elemente der Frage so lange in verschiedene Anordnungen [zu bringen], bis sie zur Figur zusammenschießen, aus der die Lösung hervorspringt, während die Frage verschwindet“ – so bestimmt Adorno bereits 1931 die Aufgabe materialistischer Erkenntnis]”

In solch einer Mimesis, wie Polt sie durchführt, scheint also sowohl ein bestimmter (deutscher) Charakter heraus, dessen Konturen sich durch die Widersprüche ergeben, in denen er sich selbstsicher begibt, wie der Begriff, an dem genau dies exemplifiziert wird, etwas von seiner Dialektik offenbart. - Was also denkt ein alter Deutscher so über die Demokratie, und inwiefern wirft das ein Licht auf diese selbst.

Der Vorteil einer solchen Aufzeichnung ist, dass man hören kann, wo das Publikum am meisten lacht, das zum Großteil so wenig von Polts Meisterschaft begreifen dürfte, wie viele Kommentatoren unter dem Video. Sie beklatschen neben den kleineren ‘Gags’ v.a. die Dinge, mit denen sie übereinstimmen, ohne zu merken, dass genau das Beklatschte hier gerade karikiert wird - man weiß also, wo Polt eine breitere Masse trifft. (Oder andersherum z.B. in einem Kommentar, in dem er kritisiert wird, mit der Relativierung der Gewalt den Islamismus zu verharmlosen, wo seine Figur doch den NS verharmlost, was die Pointe dieser Bemerkung darstellt.)

Ein Zeichen dafür, dass Polt ein anachronistischer Künstler ist, zeigt sich aber nicht nur in seiner Klasse, sondern auch darin, dass der von ihm seit Jahrzehnten so facettenreich dargestellte deutsche Charakter mittlerweile eher der ‘alte’ ist (auch beim sehenswerten Stück hier zu merken) und doch große Konkurrenz bekommen hat. Eine versierte Karikatur dieser wäre nett, doch über das Gestammel und Gehampel von ‘Comedians’ und den so schrecklichen wie vollkommen humorlosen Aufklärungsvorträgen des politischen Kabaretts wird es (hierzulande) wohl nicht mehr hinausgehen.

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