Bringen wir zunächst das Schema des Mythos in Erinnerung. Narziß, ein Knabe von ebenso blendender wie hochmütiger Schönheit, wird in Thespies in Böotien geboren und stammt von dem Fluß Cephisos (in dessen Wassern später sein Bild ruhen wird) und von der Nymphe Liriope ab (verwandelt sich leirion, die Lilie, im Verlauf des Mythos nicht in jene andere Blume der feuchten Regionen, in die Trauernarzisse?). Narziß verschmäht die Jünglinge und die Mädchen gleichermaßen; in Gestalt der Nymphe Echo begegnet er einer Vorwegnahme seiner Verdoppelung im spiegelnden Wasser. Die in ihn verliebte und von ihm verschmähte Echo, die nur die Worte der anderen wiederholen kann (und zwar auf Geheiß Junos als Strafe dafür, daß sie die ehebrecherischen Liebschaften ihres Vaters Saturn zu sehr gedeckt hat), verliert schließlich ihren Körper: „In der Luft verflüssigt sich jeder Saft des Leibes“, ihre Knochen versteinern, nur ihre Stimme bleibt erhalten. Die von Narziß Verschmähten erflehen schließlich von der „Göttin von Rhamnus“, von Nemesis, „er möge selbst so lieben und nie das Geliebte besitzen“. Die Strafe erfüllt sich, als sich der von der Jagd erhitzte Knabe über eine Quelle beugt, um seinen Durst zu löschen, und ihm ein anderer Durst erwächst: „Beim Trinken er herrliche Schönheit; ergriffen liebt er ein körperlos Schemen: was Wasser ist, hält er für Körper.
Julia Kristeva, Geschichten von der Liebe, III Narziß: Die neue Dementia, S. 102, Frankfurt am Main 1989.