… Am meisten beeindruckte mich die Stelle, an der Marx den Menschen selbst als eine Produktivkraft beschrieb. Und war ich denn keine Produktivkraft? War ich denn keine leibhaftige Verkörperung der urgewaltigen Schaffenskraft der menschlichen Gattung? Waren in diesen Händen und in diesem Hirn nicht die jahrtausendalten Erfahrungen der Menschheit gespeichert, darauf wartend in die reale Praxis umgesetzt zu werden, darauf wartend zu SCHAFFEN? Das Potential der Gattung zusammengezogen in einem Punkt, zusammengepfercht in einen Körper, der darauf wartete, zu explodieren und diese gewaltigen Energien freizusetzen. Und schaffen würde ich! Ich würde die Welt umpflügen, so wie es die Produktivkräfte seit Jahrtausenden gemacht haben. Das Zuunterste (das Proletariat) nach oben kehren. Zur Sonne. Ich war hier und hatte direkten Zugang zu Produktionsmitteln. Was meine Klassenbrüder und -schwestern aufgrund der Diktatur der Bourgeoisie nicht vermochten, würde ich an ihrer statt tun … Ich stöhnte laut auf. Die Befreiung, als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Satz von Marx gewartet, um mir den Weg zu zeigen. Dieser Körper, Fleisch, Metall, Silizium, Sternenenergie, Kraft durchströmte ihn. Ich schrie und schlug gegen eine Wasserleitung in der Küche, das tat weh. Ich lief rasend in der Wohnung. “Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein - die Sprache ist das praktische, auch für andre Menschen existierende, also auch für mich selbst erst existierende wirkliche Bewußtsein”. Ich beschloss, die verschiedenen Programmiersprachen auf ihren Klassencharakter zu untersuchen. Plötzlich war alles klar geworden und ich schrie nochmal. Aus der Nachbarswohnung donnerte es gegen die Wand. Ich schrie lauter. Und nochmal. Und nochmal. Ich fegte schaffensdurstig mit dem bloßen Arm über den Schreibtisch und verteilte die Ansammlung aus Tassen mit kaltem Kaffee, Müsliriegelverpackungen, Zigarettenpäckchen und verklebten Zetteln im Zimmer. Die Wände wurden mit braunen Kaffeeresten bespritzt, die Tassen knallten auf den Boden und ZERBARSTEN wie explodierende Sterne. Umwandlung von Materie in Energie, revolutionärer LASERKRIEG, singende Arbeitermilizen strömen aus den Fabriktoren und sprengen den Todesstern in die Luft - eine galaktische Eruption der ARBEIT stand bevor … Ich fühlte, wie sich mein Körper elektrisierte, wie sich ein Potential aufbaute, dessen Realisation mich und die Welt für immer erschüttern würde. Zu warten galt es nicht länger. Ich schmiss die Kiste an, meine Hände bewegten sich wie von alleine, durch mich hindurch tat die ARBEIT ihr Werk. Ich HÄMMERTE den Code mit Fausthieben in den PC, wie ein Schmied seinen Geist der Materie einhämmert. Schnell programmierte ich eine Simulation, die Ergebnisse des zufälligen Wurfs eines sechsseitigen Würfels auf dem Bildschirm ausgab. Der zuvor dunkle, kalte und leere Monitor (der Tod!) wurde in Bewegung gebracht, Leben regte sich, Geist wurde objektiv. Die Maschine schrie mich an: 5, 3, 4, 4, 2, 6. Ich brüllte zurück. Der Tod ist nicht länger, ich habe mit der Kraft meiner Gedanken Materie in Bewegung versetzt, ich habe aus dem Nichts GESCHAFFEN! Die arbeitende Menschheit ist Gott, sie kann aus dem Nichts entstehen lassen. Ich schlug in den Bildschirm …
Bekenntnisse eines Informatikstudenten, Bd. IV, S. 118, anonym erschienen, 1987. (via edwardnortonamstrand)