Clarice [Lispector] wob einen Mythos um ihren Namen, der bereits in ihrem ersten Roman – damals war sie dreiundzwanzig Jahre alt – deutlich wird. Sie schmückte die Legende ihr ganzes Leben lang aus, indem sie zum Beispiel ohne jegliche Grundlage behauptete, Lispector sei ein lateinischer Name. Durch dessen Zerstückelung – zu lis, Lilie, wie bei der heraldischen Fleur-de-Lis, und pector, Brust – brachte sie die unsinnige Kombination ›Brust-Lilie‹ hervor. Auf ihrem Totenbett verlieh sie diesem wunderlichen Namen durch ein paar gekritzelte Zeilen eine dichterische Aura: ›Ich bin ein von Gott geliebter Gegenstand. Und deshalb wachsen mir Blumen auf der Brust. Er hat mich genau so geschaffen, wie ich gerade schrieb: ›Ich bin ein Gott geliebter Gegenstand‹, und er hat mich gern erschaffen, genauso gern wie ich den Satz erschaffen habe. Und je mehr Geist der menschliche Gegenstand hat, desto größere Befriedigung empfindet Gott. Weiße Lilien auf der Nackheit der Brust. Lilien, die ich darbiete für das, was in dir schmerzt.‹ Aber die eigentliche Realität liegt jenseits von Namen und Sprache. Die mystische Erfahrung, die sie an denkwürdigsten in ihrem Roman Die Passion nach G. H. inszenieren sollte, besteht darin, die Sprache abzubauen, um eine endgültige – und notwendigerweise namenlose – Wahrheit aufzudecken. Bevor ihr altes Leben durch eine überwältigende mystische Vision zerstört wird, fasst die Heldin G. H. ihre Biographie: ›Alles Andere war, wie ich mich nach und nach in den Menschen verwandelt hatte, der meinen Namen trägt. Und am Ende war ich dann mein Name. Es genügt, auf dem Leder meiner Koffer die Initialen G. H. zu sehen, und da bin ich.‹
Benjamin Moser, Clarice Lispector, Eine Biographie, Aus dem Englischen von Bernd Rullköter, 4. Der fehlende Name, S. 54 f., Ffm. 2013.