Sein zur Kastration: Fuck the facts!
Leszek Kolakowski: Der Himmelsschlüssel, Frankfurt am Main 1964, S. 25. (via diesebastionbehrisch)
Von der unbestreitbaren Tatsache zum unumgänglichen Schicksal trennt nicht nur ein lächerlicher Schritt, sondern eröffnet sich auch eine unendliche Anzahl abyssaler Farcen.
»Prelude to King Kong«1 – Wann werden jemals die Stunde der Tatsache und die der Wahrheit die gleiche sein? Diese Frage stellte sich mir als ich eine kurze Weile in der Anstalt gewesen war. War zwar einiges, was einem dort zugemutet wurde, recht beschwerlich, muss man nichtsdestotrotz unabhängig davon, daß man als ein aus ihr Entlassener sich vorfindet, eines zumindest anerkennen: Manche Insassen in der Anstalt hetzten die Leute nicht mit Tatsachen auf, die nicht der Wahrheit entsprechen; dort wo neben dem belanglosen Gerede über das Wetter, kaum andere Geplänkel gegenseitig sich geboten wurden, als: „Wie geht‘s?“ – „Nicht den Umständen entsprechend.“ Könnte man diese Phrase, mit dem goldgrundlosen Kopfschütteln eines Pessimisten,2 sich nicht auf folgende Art und Weise übersetzen: Es geht einem den Tatsachen nicht entsprechend? Ging es also doch?
Mag sein, daß ich in der Anstalt nur noch böser geworden bin. Vielleicht bin ich jedoch bloß erfahrener geworden, da solche Zeitgenossen, die die Tatsachen dieser Welt nicht mit der Wahrheit gleichsetzen, einem durchaus eine gewisse Erleichterung verschaffen, bedarf doch der ordinäre Pofel von der unbestreitbaren Tatsache, so wie es vom Erhabenen zum Lächerlichen bloß eines Schrittes bedarf, sein Abonnement auf die Wirklichkeit als ein „unumgängliches Schicksal“,3 von dem bereits jemand allzu gerne sprach, der nicht nur ausschließlich seine Rotzhaarbremse mit Ruhm und Ehren bekleckert hat. Tatsachen müssen also überhaupt nicht, auch dann nicht, wenn sie wirklich existieren sollten, wahr sein. Aber für diejenigen, die die moralische Regel „Bangemachen gilt nicht“4 ignorieren, und deshalb zu denjenigen zu zählen sind, die über vermeintliche Denkverbote sich beklagen, wenn sie über die vorgebliche Hegemonie oder gar Diktatur der politically correctness sich beschweren, denen muss man wahrlich gar nicht erst das Denken verbieten. Paranoia, die als politischer Verstand sich vorträgt, erkennt in der Welt der unbestreitbaren Tatsachen quasi ein bizarr vexiertes Paradies, ein Schattenreich ihrer Erkenntnisse.
Wenn die Wirklichkeit bloß das Schattenspiel einer Wirklichkeit – der Wirklichkeit – ist, was ist dann Schreiben? Ist Schreiben in diesem Fall als Fiktion eine wirklichere Wirklichkeit, die von dem Differential lebt, dass die Realität real ist, während jedoch die Schwächen der Intelligenz in ihren Motiven wurzelt, und ihre Konstruktionen insgesamt, immer etwas Ungegenständliches mit sich führen, so dass unwirkliche Elemente sich anhäufen, da der Umfang der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit zu gering ausfällt? Mit ihren vermeintlichen Erkenntnissen stellen sie nicht nur sich selbst in den Schatten, sondern vor allem auch das mögliche Vermögen der Gesellschaft über sich selbst Bewußtsein zu erlangen, bzw. das Verkürzen von Bewußtsein in den Schatten. Und ist man einmal ordentlich paranoid geworden, kann man wohl kaum mehr wirklich von sich behaupten, dass man kreativ ist. Da "Paranoia [...] der Schatten der Erkenntnis" ist, kann man nicht mehr aus bestimmten Einsichten heraus etwas machen, sondern aus einer rationalisierten Angstlust heraus. Jemand wie Georg Trakl hat daraus noch ein Talent entwickeln können. [vgl. auch "Tatsache" auf dem unterirdischen Weblog rangordungslehre.de]
1 Mit »Prelude to King Kong« (Frank Zappa & the Mothers of Invention, Uncle Meat 1969) soll ein kritischer Begriff der Tatsachen vorgestellt werden, der auf einem gewissen Abstraktionsniveau zumindest eine epistemologische Konstellation konstruieren soll, die nicht nur interventionistisch rezipiert, sondern auch rezepierend artikuliert, wie unendlich exakt der gesellschaftliche Zusammenhang striktiert wird, was eine kreative Destruktion der ideologischen Haltung impliziert, mit der seriell gefordert wird, daß man den »Charakter der bloßen Tatsächlichkeit« der Welt anzuerkennen habe. Horkheimer artikulierte 1937 in Anlehnung an die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie in dem für die Frankfurter Schule relevanten Dokument Traditionelle und kritische Theorie diesen Aspekt des kritischen Potentials der Marxschen Theorie, dadurch, dass er die These vertrat, dass der Kritischen Theorie nicht nur die Erkenntnis gesellschaftlicher Widersprüche als verändernder Faktor gilt, auch schlägt sich ihr bewusstes Verhältnis zur Praxis in ihren epistemologischen Formen nieder. Dies gilt für sie deshalb, weil sie die Tatsachen der gesellschaftlichen Wirklichkeit als Produkte menschlicher Praxis entdeckt; damit nimmt sie diesen den besagten »Charakter bloßer Tatsächlichkeit« [Horkheimer, S. 30] und zeigt sie in ihrer Veränderbarkeit auf. [Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie (1937), Vier Aufsätze, S. 12-64, Frankfurt/M. 1968.]
2 Wie kann man nur auf die Idee kommen, wenn das Adjektiv goldgrundlos erwähnt wird, sein uninteressiertes Interesse für Mechanismen zu bekunden?
3 Niemand anderes als der Reichskanzler und Reichspräsident in einer Person, der Führer der Deutschen, Adolf Hitler, tat nichts lieber als konstant vom »unumgänglichen Schicksal« der deutschen Volksmasse zu monologisieren (Adolf Hitler zit. n.: Imre Kertész, Galeerentagebuch). Das Galeerentagebuch verdeutlicht recht deutlich die permanente Konfrontation auf die Imre Kertész sich einließ, um herauszufinden, welche Konstruktion die Figur des Schicksallosen benötigt, damit sein Roman als eine ideologiekritische Volte gegen den Nationalsozialismus und seiner vernichtenden Praxis in den Konzentrationslagern aufladen und artikulieren zu können; freilich im Bewußtsein, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit, die den NS ermöglichte noch immer möglich werden lassen kann, eben in dem ehernen Zugriff des Faktischen, den Gesellschaften selbst produzieren und gnadenlos über jeden verhängen, und dabei die Gefahr der Barbarei gegeben ist, daß nichts anderes verlangt wird, als die Anpassung daran, um die Reproduktion einer Gesellschaft zu gewährleisten. Im Galeerentagebuch, das über weite Passagen Imre Kertész auch als ein Arbeitsjournal (es erinnert sowohl an Brechts Arbeitsjournal, wegen seinen Einträgen zum Zeitgeschehen, als auch an Canettis berüchtigtes Buch die »Provinz des Menschen«, wegen der Ähnlichkeit der aphoristischen Gedankensplitter) zu seinem Roman eines Schicksallosen diente, formuliert er sein Projekt eines Portraits des »funktionalen Menschen« [Galeerentagebuch, S. 8] in der „STRUKTUR“ [Galeerentagebuch, S. 26.] der Konzentrationslager als Absage an den »Helden der Tragödie«. Zugleich weist er daraufhin (dies sein immens relevanter ideologiekritischer Einwand), dass die Rede vom ›Schicksal‹ nichts anderes war, als Hitlers Versuch, »Dinge als ›unumgängliches Schicksal‹ erscheinen zu lassen, die durchaus nicht unumgänglich waren, die auch ganz anders hätten geschehen können, oder sogar überhaupt nicht hätte geschehen müssen« [Galeerentagebuch, S. 23. Vgl. dazu den Aufsatz von Thomas Meyer, Die Logik der STRUKTUR. Imre Kertész' Roman eines Schicksallosen und Theodor W. Adornos Schönberg-Interpretation, in: Peter Weiss Jahrbuch 12 (2003), S. 145-163.]
4 Dieser Satz fungiert in Adornos Minima Moralia als Titel eines einzelnen Aphorismus, der konstellativ zu solchen Begrifflichkeiten wie Tatsache, Notwendigkeit, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Welt, Wirklichkeit und Zufall assoziiert werden kann. Er sei hier wiedergegeben: „Bangemachen gilt nicht. - Was objektiv die Wahrheit sei, bleibt schwer genug auszumachen, aber im Umgang mit Menschen soll man davon nicht sich terrorisieren lassen. Es gibt da Kriterien, die fürs erste ausreichen. Eines der zuverlässigsten ist, daß einem entgegengehalten wird, eine Aussage sei »zu subjektiv«. Wird das geltend gemacht und gar mit jener Indignation, in der die wütende Harmonie aller vernünftigen Leute mitklingt, so hat man Grund, ein paar Sekunden mit sich zufrieden zu sein. Die Begriffe des Subjektiven und Objektiven haben sich völlig verkehrt. Objektiv heißt die nicht kontroverse Seite der Erscheinung, ihr unbefragt hingenommener Abdruck, die aus klassifizierten Daten gefügte Fassade, also das Subjektive; und subjektiv nennen sie, was jene durchbricht, in die spezifische Erfahrung der Sache eintritt, der geurteilten Convenus darüber sich entschlägt und die Beziehung auf den Gegen-stand anstelle des Majoritätsbeschlusses derer setzt, die ihn nicht einmal an-schauen, geschweige denken - also das Objektive. Wie windig der formale Einwand subjektiver Relativität ist, stellt sich auf dessen eigentlichem Felde heraus, dem der ästhetischen Urteile. Wer jemals aus der Kraft seines präzisen Reagierens im Ernst der Disziplin eines Kunstwerks, dessen immanentem Formgesetz, dem Zwang seiner Gestaltung sich unterwirft, dem zergeht der Vorbehalt des bloß Subjektiven seiner Erfahrung wie ein armseliger Schein, und jeder Schritt, den er vermöge seiner extrem subjektiven Innervation in die Sache hineinmacht, hat unvergleichlich viel größere objektive Gewalt als die umfassenden und wohlbestätigten Begriffsbildungen etwa des »Stils«, deren wissenschaftlicher Anspruch auf Kosten solcher Erfahrung geht. Das ist doppelt wahr in der Ära des Positivismus und der Kulturindustrie, deren Objektivität von den veranstaltenden Subjekten kalkuliert ist. Ihr gegenüber hat Vernunft vollends, und fensterlos, in die Idiosynkrasien sich geflüchtet, denen die Willkür der Gewalthaber Willkür vorwirft, weil sie die Ohnmacht der Subjekte wollen, aus Angst vor der Objektivität, die allein bei diesen Subjekten aufgehoben ist." [Adorno, GS 4, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 43: Bangemachen gilt nicht, S. 77-78, Frankfurt/M. 2003.]