In dem Alter, in dem die Namen uns Bilder des Unkennbaren, das wir in sie gelegt haben, darbieten und uns zugleich wirklich vorhandene Orte bezeichnen, zwingen sie uns, Bild und Ort zu identifizieren. So kommt es, daß wir in einer Stätte eine Seele suchen, die sie gar nicht enthalten kann, aber wir können sie eben nicht mehr aus ihrem Namen vertreiben. Und darum geben die Namen nicht nur Städten und Flüssen eine Individualität (in der Art allegorischer Malerei), nicht nur das physische Universum malen sie bunt und vielfältig aus und bevölkern es mit Wundern, sondern auch das soziale; jedes Schloß, jedes berühmte Haus oder jeder Palast bekommt seine Dame, seine Fee, wie die Wälder ihre Genien haben und ihre Gottheiten die Gewässer. Tief im Innersten ihres Namens verwandelt die Fee sich bisweilen, da sie dem Leben unserer Phantasie, von welchem sie sich nährt, gefallen will. […] Allein die Fee vergeht, wenn wir uns der wirklichen Person nähern, der ihr Name entspricht, denn nun beginnt der Name die Person Guermantes widerzuspiegeln, und die enthält nichts von der Fee; die Fee kann aufleben, wenn wir uns von der Person entfernen; bleiben wir aber, so stirbt die Fee endgültig und mit ihr der Name, wie die Familie Lusignan an dem Tage erlöschen muß, an dem die Fee Melusine verschwindet. Der Name, unter dessen vielen Übermalungsschichten wir schließlich als das eigentliche das schöne Bild einer Unbekannten hätten finden können, die wir nie kennen lernen, ist dann nur noch die einfache Paßphotographie, die wir uns nur vergegenwärtigen, um festzustellen, ob wir eine Person, der wir begegnen, grüßen müssen oder nicht. Aber manchmal gibt ein Eindruck vergangener Jahre - wie Phonographen, welche Klangfarbe und Stil verschiedener Künstler, die für sie spielten, registrieren - unserm Gedächtnis die Fähigkeit, einen Namen mit dem besondern Klang uns vernehmbar zu machen, den er damals für unser Ohr hatte: scheinbar ohne daß dieser Name ein anderer geworden sei, fühlen wir die Spanne, welche die wechselnden Träume, mit denen wir diese gleichbleibenden Silben erfüllten, voneinander trennt. Für einen Augenblick können wir aus dem neu vernommenen Klang von Vogelstimmen eines früheren Frühlings wie aus kleinen Farbentuben - die genaue vergessene geheimnisvolle frische Nuance jener Tage gewinnen, an die wir uns immer erinnern zu können glaubten, und doch hatten wir nur wie schlechte Maler unserm ganzen, auf eine große Leinwand gebreiteten früheren Leben die üblichen, immer gleichen Töne willkürlichen Gedächtnisses verliehen. Und jeder der Augenblicke, aus denen sie sich zusammensetzt, verwandte doch zu einer Originalschöpfung von einzigartiger Harmonie die Farben von damals, welche wir nicht mehr kennen.
Marcel Proust, Guermantes, Übersetzt von Walter Benjamin und Franz Hessel, S. 8 f., in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershorn Scholem, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Supplement III, Herausgegeben von Hella Tiedemann-Bartels, Frankfurt/M. 1987.