Zum Begriff des Erzählens:
»Überhaupt nichts kann durch Erzählen gewusst werden.«1
»Jedes Wort ist ein unnötiger Fleck auf der Stille und Leere.«2
»Mein Los, das tausch’ ich auf gut Glück mit jedem Mistkerl, Galgenstrick, wie Höllenfeuer brennt die Qual, ich muß heraus, hab’ keine Wahl, das Leben ist mir hassenswert, wer leiht ein Messer, hält das Schwert? Anderes Leid – Gold gegen die verfluchte Last: Melancholie.«3
»Ich weiß nicht, ob ich nichts zu sagen habe, ich weiß, dass ich nichts sage; ich weiß nicht, ob das, was ich zu sagen hätte, nicht gesagt wird, weil es das Unsagbare ist (das Unsagbare verkriecht sich nicht im Geschriebenen, es ist das, was das Schreiben lange zuvor ausgelöst hat); ich weiß, dass das, was ich sage, leer ist, farblos ist, ein für allemal das Zeichen ist für eine Vernichtung, die ein für allemal ist. Genau das sage ich, das schreibe ich, und nur das findet sich in den Worten, die ich hinsetze, und in den Zeilen, die diese Worte zeichnen, und in den leeren Räumen, die der Abstand zwischen diesen Zeilen erscheinen lässt: ich kann noch so sehr meinen Sprachschnitzern hinterherjagen […] oder zwei Stunden lang von der Länge des Mantels meines Papas träumen oder in meinen Sätzen, um sie natürlich sogleich zu finden, die Lieblingsmelodie des Ödipus- oder des Kastrationskomplexes suchen, ich werde, selbst in meiner ewigen Wiederholung, in meinem bis zum Überdruss gehenden Grübeln immer nur den letzten Widerschein eines dem Geschriebenen fehlenden Wortes, den Skandal ihres Schweigens und meines Schweigens finden: ich schreibe nicht, um zu sagen, dass ich nichts sagen werde, ich schreibe nicht, um zu sagen, dass ich nichts zu sagen habe. Ich schreibe: ich schreibe, weil wir zusammen gelebt haben, weil ich unter ihnen geweilt habe, einer unter ihnen gewesen bin, ein Schatten inmitten ihrer Schatten, ein Körper nahe bei ihren Körpern; ich schreibe, weil sie in mir ihr unauslöschliches Zeichen hinterlassen haben und weil das Schreiben die Spur dieses Zeichens ist: die Erinnerung an sie ist für das Geschriebene tot; das Geschriebene, das Schreiben, ist die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens.«4
»Alle Objekte der schriftstellerischen Tätigkeit werden unter der einen allgemeinen Vorstellung »Wahrheit« subsumiert. Sehen wir nun selbst vom Subjektiven ab, nämlich davon, daß ein und derselbe Gegenstand in den verschiedenen Individuen sich verschieden bricht und seine verschiedenen Seiten in ebenso viele verschiedene geistige Charaktere umsetzt; soll denn der Charakter des Gegenstandes gar keinen, auch nicht den geringsten Einfluß auf die Untersuchung ausüben? Zur Wahrheit gehört nicht nur das Resultat, sondern auch der Weg. Die Untersuchung der Wahrheit muß selbst wahr sein, die wahre Untersuchung ist die entfaltete Wahrheit, deren auseinandergestreute Glieder sich im Resultat zusammenfassen. Und die Art der Untersuchung sollte nicht nach dem Gegenstand sich verändern?«5 _______________________________________________________________
1 George Spencer Brown, Laws of Form, Einleitung, S. 12, Leipzig 2008.
2 Samuel Beckett
3 Robert Burton, Anatomie der Melancholie.
4 Georges Perec, W oder die Kindheitserinnerung, S. 47 f., Zürich 2012.
5 Karl Marx, MEW 1, Bemerkungen über die neue preußische Zensurinstruktion. Von einem Rheinländer, S. 7, Berlin 1956.