THESEN ZUM »DOPPELCHARAKTER DER SPRACHE«1
I. Die Bedingungen der Erkenntnis der Sprache als Subjekt sind zugleich die Bedingungen des Gegenstands der Erkenntnis der Sprache als Objekt. Es gilt jedoch dabei zu berücksichtigen, dass Sprache als Subjekt und als Objekt dasselbe und doch nicht dasselbe ist.2
II. Kritische Theorie der Sprache kritisiert die Substitution von Sprache als Subjekt durch die Sprache als Objekt, da diese Substitution das verdinglichte Bewusstsein nicht nur des Sprachfetischismus, Sprachpositivismus sondern auch der Linguistik ausmacht, gilt analoges für eine Kritik des verdinglichten Bewusstseins der Semantik. In beiden Disziplinen wird also verkannt, dass die Sprache als ein Subjekt-Objekt ein sich selbst fremd und gegenständlich Gegenüberstehendes, ein Objekt ist. Dies ist nur als ein in und durch dynamische Interpolationen zu begreifender Prozess zu verstehen, der sich dem an der Sprache partizipierenden Subjekt und dem zugleich in der Sprache Dividuierten durch die Friktionen während des »Prozesses der Semiosis« zeigt.
III. Der »Doppelcharakter der Sprache« ist nicht nur darin zu bestimmen, dass die Sprache sich als ein strukturelles und prozessuales Objekt der gesellschaftlichen Produktion präsentiert, sondern auch, dass er sich immanent zur Sprache in und durch eine formal-syntaktische, praktische, pragmatische, semantische und semiotische Negativität dynamisch akzentuiert vermittelt,3 indem er sich anhand des syntagmatischen und paradigmatischen Aspekts der Sprache indiziert.4
IV. Diese von Roman Jakobson genannten Aspekte des »Doppelcharakters der Sprache« scheinen nur auf die immanente Dimension der Sprache als funktionierendes System und seiner Struktur hinzuweisen. Dennoch sind sie in dem theoretischen Zusammenhang vom Prozesscharakter der Sprache insgesamt keinesfalls ohne die von ihm herausgearbeiteten Kategorien Diachronie und Synchronie und die von ihm nicht entfaltete aber logisch enthaltene Kategorie Anachronie zu begreifen,5 die auf den historischen Prozess des sich entäußernden Charakter der Sprache hinweisen, mit der die Sprache sich als System darstellt, ihre Struktur nichtsdestotrotz als Gewordenes begreifen lassen. Wodurch deutlich wird, dass die »Dezentrierung in der Sprache selbst«6 in der äußersten Diskretion durch die Wirklichkeit affiziert wird. Sprache erscheint dadurch zwar als ein bewusster und entäußerter Zusammenhang der gesellschaftlichen Wirklichkeit, doch ist sie keineswegs darauf zu reduzieren, dass sie nur Ausdruck der Wirklichkeit ist, weil Sprache sich als unbewusste Effektuation der gesellschaftlichen Wirklichkeit und der historischen Ensemble gestaltet.7 Insofern sind sie gleichfalls als kritische Hinweise auf die mangelnde Formalität der Saussureschen Konzeption von Semiotik zu berücksichtigen, da sie die Sprache als gesellschaftliche Produktion exakter in deren Spatialisation und Temporalisation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf die richtigen Begriffe zu bringen vermögen. Die Bestimmung der immanenten Dimension der Sprache (oder der historischen Immanenz der Sprache) für die unabdingbare Darstellung der Naturgeschichte, verweist nicht nur in diesem Fall auf das, was man als und für die Sache der Sprache zu beurteilen vermag, also auf das »Außerhalb der Sprache«, dessen allgemeiner Status als Objekt der Sprache es so nicht gibt, obwohl es existieren mag.8
V. Nimmt man an, dass die Negativität der Sprache eine des zweiten Grades der negativen Totalität der Gesellschaft ist, ist sie entgegen dem Eindruck dieses Ausdrucks keineswegs über irgendeine Art von Ableitung zu begreifen.9 Auch wenn sich die erkenntnistheoretischen Fluchtlinien in der Orientierung auf den Primat und die Präponderanz des Objekts zusammenziehen, ist keinesfalls in und durch die Sprache allein die negative Totalität der Gesellschaft aufzulösen. Was nicht als Vorschrift einer normativen Ambition missverstanden werden soll, sondern allerhöchstens als ein Hinweis auf die mögliche Reflexion, mit der man nichts geringeres versucht, als ins Bewusstsein aufzuheben, dass im Modus der negativen Dialektik von der Kritik der Sprache zur Kritik zur Sache zu schreiten ist, was impliziert, dass man im bewussten Widerspruch als artikulierten Einwand zur Negativität der Sprache hindurch die negative Totalität der Gesellschaft deutet, was jedoch den Ausgangspunkt abträgt, den es, um keinerlei theoretischer Verzerrung anheimzufallen, darin auszumachen gilt, dass man mit der Negativität der Sprache als einem Ausdruck negativer Totalität der Gesellschaft konfrontiert wird, bei der es zugleich eine Permanenz der Negativität zu beachten gilt.
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1 Zu »Doppelcharakter der Sprache« vgl. Vgl. Theodor W. Adorno, GS 8, Soziologische Schriften I, Einleitung zum »Positivismusstreit in der deutschen Soziologie« [1969], S. 316; GS 11, Noten zur Literatur III, Voraussetzungen, S. 434 f.; Parataxis, S. 477 f.; GS 10.2, Kulturkritik und Gesellschaft I/II, Stichworte. Kritische Modelle 2, Dialektische Epilegomena, Marginalien zu Theorie und Praxis, 1., S. 759-761, Ffm. 2003.
2 Hierin ist man ebenso gezwungen, dialektisch und undialektisch zugleich zu denken. Vgl. Theodor W. Adorno, GS 4, Minima Moralia, 98, Vermächtnis, S. 173.
3 Dynamisch meint hier im Sinne von logischen Möglichkeiten, was sich gewiss nicht ohne jegliche Assoziation mit Humboldts »ergon« und »energeia« denken lässt, trotz allem Einwand gegen die sprachidealistische These, dass Teile der Wirklichkeit spracherzeugt seien, sind nichtsdestotrotz die logischen mit den objektiven Möglichkeiten realer Unterschiede der Sprache und der Wirklichkeit zu konstellieren, die sicherlich nicht allein mit der Sprache entschieden werden können. Sie jedoch in der Form zu entscheiden, indem man sie als Sprache im allgemeinen und im besonderen als sprachliche Formbestimmungen gesellschaftlicher und sprachlicher Produktion nimmt, bedeutet, vernünftig zu beurteilen, dass und wie Sprache nicht ohne ihre Kontingenzen zu deuten ist: »Die Sprache in ihrem wirklichen Wesen aufgefaßt, ist etwas beständig und in jedem Augenblicke Vorübergehendes. Selbst ihre Erhaltung durch die Schrift ist immer nur eine unvollständige, mumienartige Aufbewahrung, die es doch erst wieder bedarf, daß man dabei den lebendigen Vortrag zu versinnlichen sucht. Sie selbst ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). Ihre wahre Definition kann daher nur eine genetische sein. Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen. Unmittelbar und streng genommen, ist dies die Definition des jedesmaligen Sprechens; aber im wahren und wesentlichen Sinne kann man auch nur gleichsam die Totalität dieses Sprechens als Sprache ansehen.« Wilhelm v. Humboldt, Schriften zur Sprache, Herausgegeben von Michael Böhler, Einleitung zum Kawi-Werk, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, Form der Sprachen, 12., S. 36, Stuttgart 2007.
4 Beide Aspekte hat Roman Jakobson, dem Elmar Holenstein anlässlich zur Verleihung des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart 1982 zurecht den Vorschlag unterbreitete, »daß er selber eine […] authentische Darstellung der hegelianischen Linie seiner Sprachwissenschaft formuliere« [Vorwort, 1984, S. 6, in: Das Erbe Hegels II], im Zuge seiner Kritik an Ferdinand de Saussures eindimensional gefasster Synchronizität des Systems der Sprache (langue) artikuliert, indem er die Temporalisation der Sprache durch den Begriff von der Diachronizität supplementierend präzisierte. Dadurch kann man die Sprache und deren Evokation semiotischer Momente durch drei äußerst umfassende Temporalisationen denken: Anachronizität, Diachronizität und Synchronizität. Jakobson hebt in seiner ersten Arbeit zur Phonologie Saussures Antinomie von Synchronie und Synchronie auf (1929: SW I, S. 7 ff.), indem er den dynamischen Charakter jedes synchronen Stadiums der Sprache und die systematische Struktur des diachronen Sprachwandels empirisch belegt. Vgl. Roman Jakobson, Remarques sur l'evolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves, Travaux du Cercle Linguistique de Prague, II, pp. 118, repub. as Selected Writings I, 4, (7-114), 1929, vgl. besonders 1929: SW ; Roman Jakobson, Doppelcharakter der Sprache, und die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymie, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, S. 163-174, Darmstadt 1983; Vgl. Elmar Holenstein, in: Roman Jakobson, Hans-Georg Gadamer, Elmar Holenstein, Das Erbe Hegels II, Vorwort, S. 6; Roman Jakobson, Dialektik der Sprache, S. 9-12, in: Das Erbe Hegels II.
5 Anachronie lässt sich aus den von Jakobson formulierten Kategorien Diachronie und Synchronie konstellativ entfalten. Mit ihr ist keine geringere Schwierigkeit gegenwärtig als die über das prinzipielle Maß der Unverständlichkeit hinausgehende Fremde historischer Phänomene zu interpretieren. Dies gilt es als ein hermeneutisches Regulativ für die unterschiedlichen Gegebenheiten von Theorien zu berücksichtigen, anhand deren konfrontativen Aneignung sich das notwendige Moment orthodoxer Deixis beobachten lässt. Uli Krug hat die äußerst treffende Formel »fremde Nähe« für die beiden äußerst unterschiedlichen Theorien als kritische Theorie der Gesellschaft und als Psychoanalyse gefunden, mit der man beides zu denken vermag, ohne einem willkürlichen Synkretismus oder in jene mediokre Synthetizismen zu verfallen, welche nicht nur die akademische Müllhalde mit auf diese Art geschriebenen Prüfungsthesen bis ins Ungeheuerliche akkumuliert. Vgl. Uli Krug, Der Wert und das Es. Über Marxismus und Psychoanalyse in Zeiten sexueller Konterrevolution, S. 7-16, Freiburg/Br. 2016.
6 Jean Laplanche, Die unvollendet kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, S. 14, Giessen 2003.
7 Damit ist nur äußerst knapp das inhaltliche Problem der Reflexion auf die Vernunft und ihre Kontingenz skizziert, um ausreichend eines der Argumente der kritischen Theorie der Sprache zu begründen. Denn im Kontext der Sprache ist nicht nur jener lacanschen Identifikation nachzugehen, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, und auch nicht nur einer weiteren davon sich unterscheidenden Identifikation, dass das Unbewusste als eine Sprache strukturiert sei, kommen doch zu allen Präpositionen zwischen dem Unbewussten und der Sprache allem Anschein nach eine ungehörige Masse spezifischer Negativitäten ins Spiel. Denn immerhin scheinen die Denkformen, die in und durch die Sprache präpariert werden, die dem an der Sprache partizipierenden Subjekt dazu verhelfen, die materielle Wirklichkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu übersetzen und zu übertragen, die aus der Perspektive des lebendigen Sprechens mitsamt der sich allem Anschein nach daraus ergebenen Denk- und Reflexionsbestimmungen, aus der Perspektive sich noch einmal als ein bewusstlos Gesetztes entpuppen. Aus der Perspektive des Subjekts zur Sprache stellt die Negativität die Möglichkeitsbedingung bestimmter Negationen dar, um nicht nur die bewusstlos gesetzten Denkformen der Sprache sondern auch die unbewusst gewordenen Sach- und Wortvorstellungen aufzuheben. Damit ist das inhaltliche Problem der Reflexion auf die Vernunft und ihrer Kontingenz in und durch die Sprache in der Tat nur äußerst knapp skizziert.
8 Enorme Schwierigkeiten scheint einigen schon von jeher jenes »Außerhalb der Sprache« zu bereiten; dies nicht erst seit Derridas »es gibt kein Außerhalb der Sprache«, »Text-Außerhalb« und »hors d‘ouevre«. Jenes »Außerhalb der Sprache« ist nicht schlicht mit einer Position einer Topik zu bestimmen, sondern es bedarf, dass man das Nichtidentische, die Wirklichkeit und das Unbewusste konstelliert, und zwar derart, dass man genau im Zusammenhang damit, deren Spatialisation und Temporalisation nicht nur als die Kantschen Anschauungsformen sondern auch als gesellschaftliche Produktion von Raum und Zeit zu denken vermag, ohne dass man dabei darauf verfällt, das Nichtidentische als Positives zu behandeln. Ist es doch darum zu tun, in und durch die kritische Theorie der Sprache nichts geringeres als die Sache der Sprache zu bestimmen: »Was Sache selbst heißen mag, ist nicht positiv, unmittelbar vorhanden; wer es erkennen will, muß mehr, nicht weniger denken als der Bezugspunkt der Synthese des Mannigfaltigen, der im Tiefsten überhaupt kein Denken ist. Dabei ist die Sache selbst keineswegs Denkprodukt; vielmehr das Nichtidentische durch die Identität hindurch. Solche Nichtidentität ist keine ›Idee‹; aber ein Zugehängtes.« Theodor W. Adorno, GS 6, Negative Dialektik, Zweiter Teil: Negative Dialektik. Begriff und Kategorien, S. 190.
9 Es muss jedoch exakt geprüft werden, ob und wie die Negativität der Sprache zur negativen Totalität der Gesellschaft eine ex- und/oder intensivere ist.