Der Nationalsozialismus war ein Parvenü der Politik, ein Neureicher, der beständig nach Anerkennung seiner Würden gierte, zu denen er es gebracht hatte, und da niemand so sehr auf die Einhaltung der Konvenzienzen bedacht ist wie ein Neureicher, solange er sich beobachtet fühlt, verhielt sich auch der Nationalsozialismus dementsprechend.
Das kann man an seinen führenden Leuten erkennen. Um sie aber richtig zu beurteilen, muß man sie vor dem Hintergrund ihrer Verbrechen sehen. Offiziell war Hitler ein verbrecherischer Asket, er verzichtete auf die sinnlichen Freuden der Macht, war Vegetarier, und Tierliebhaber, ein Anachoret im Hauptquartier, eigentlich aber war er nicht schon immer so, sondern wurde es in dem Maße, wie sich die Wirklichkeit von seinen Wunschträumen entfernte. In Wahrheit glaubte er nur an sich selbst, und von der Vorsehung sprach er wegen der Konvention, aus der er sich als Emporkömmling nicht zu befreien vermochte. Im übrigen war er eine Kombination von höchst seltenen Eigenschaften, denn er verachtete das abscheuliche Treiben seiner Akoluthen, obwohl er es ihnen nachsah, was er sich ehrlichen Herzens erlauben konnte, da er selber keine niedrigen Neigungen wie Intrigantentum besaß, die aus Sinnesfreuden herrührende Befriedigung nicht kannte, sich aus Obszönität nichts machte – doch dieser anständige Durchschnittsmensch war er nur in seinem engen Privatkreis: Im Spiel um die Macht und in dem von ihm entfesselten Krieg war er Lügner, Intrigant, Erpresser, grausamer Despot und Mörder, und gerade diese Unvereinbarkeit seiner Charakterzüge stellt die Biographen bis zum heutigen tage vor unüberwindliche Schwierigkeiten. Er war tatsächlich gut zu Hunden, Sekretärinnen, Dienern und Chauffeuren, aber eigenen Generale ließ er wie Schweine am Schlachterhaken aufbaumeln und Millionen Kriegsgefangene verhungern. Für so unerklärlich halte ich das gar nicht, denn in dem kleinen Radius des Alltags weiß jeder, wie er sich verhält und wie weit er gegenüber anderen gehen kann, aber wer weiß schon, wozu er imstande wäre, stünde er Aug in Aug der Welt gegenüber? Das heißt nicht, daß in jedem ein kleiner Hitler steckt, sondern daß Hitler seine private Anständigkeit gegenüber der Geschichte einfach ablegte; es war dies eine sehr manierierte, kleinbürgerliche Anständigkeit, und als solche hatte sie in der Politik nichts zu suchen, hier war er völlig skrupellos, denn jene Bravheit entsprang der Konvenienz und nicht moralischen Grundsätzen. Solche hatte er nicht, oder hielt nichts von ihnen in Anbetracht seiner ungeheuren Visionen, die sich ihm alle nach und nach in Berge von leichen verwandelten – das hat übrigens keiner so überzeugend nachgewiesen wie Canetti (»Hitler, nach Speer«).
Stanislaw Lem, Provokation, S. 23-25, Berlin 1985.