Magnus Klaue: Dirk Braunstein im Gespräch über die Protokolle von Adorno-Seminaren
Gerät der Versuch einer derart genauen Dokumentation alltäglicher Seminararbeit nicht auch in Gefahr, einer Historisierung oder Musealisierung der kritischen Theorie zuzuarbeiten?
Davor habe ich aus verschiedenen Gründen gar keine Angst. Zum einen versuche ich immer – und auch bei dieser Arbeit –, die Texte der kritischen Theorie als gegenwartsbezogene zu behandeln, als Texte also, die Aussagen über die unmittelbare Gegenwart machen, und nicht einfach nur als historische Dokumente. Zum anderen finde ich es wiederum durchaus hilfreich, wenn sich dabei herausstellt, dass sie Zeugnisse einer Zeit sind, die unwiderruflich vergangen ist. Die Hoffnung, durch kritische Theorie denkend in die gegenwärtige Gesellschaft einzugreifen, aus der heraus heute viele Linke sich die Zeiten des alten Instituts für Sozialforschung zurückwünschen, war ja schon zur Zeit Adornos und Horkheimers prekär. Dass bei vielen Linken das alte Institut für Sozialforschung zu einer Art theoretischer Keimzelle für die Entwicklung richtiger Praxis überhöht und dieser vermeintlich besseren Zeit hinterhergetrauert wird, ist insofern schon historisch falsch. Wenn eine solche editorische Arbeit dazu beiträgt, das Bewusstsein dafür zu schärfen, in welchem Maß sich der heutige Seminarbetrieb an den Universitäten vom damaligen unterscheidet, und wie vieles Schlechte sich umgekehrt seither erhalten hat, mag das die Frustration heutiger Akademiker verstärken, es fördert aber vielleicht auch einen historischen Realismus, der gerade vielen Linken vollständig abgeht. In diesem Sinne ist eine Historisierung kritischer Theorie, als Schärfung des Bewusstseins für die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen dem damaligen und dem heutigen gesellschaftlichen Leben, sogar wünschenswert.