′Was ist das Menschengehirn anderes als ein ungeheures natürliches Palimpsest? Mein Gehirn ist ein Palimpsest, und das deinige, lieber ebenfalls, lieber Leser. Unzählige Schichten von Gedanken, Bildern, Gefühlen haben sich unmerklich wie das Licht, nach und nach in deinem Gehirn abgelagert. Jede neue Schicht schien die vorhergehende zu begraben. In Wahrheit aber ging keine zugrunde.′ Dennoch, zwischen dem Palimpsest, auf welchem, eines über dem andern, eine griechische Tragödie, eine Mönchslegende und ein Ritterroman geschrieben wurden, und dem von Gott erschaffenen göttlichen Palimpsest, das unser unermeßliches Gedächtnis darstellt, besteht dieser Unterschied, daß auf dem ersten eine Art phantastisches, groteskes Chaos herrscht, ein Gegen- und Durcheinander von heterogenen Elementen; während bei dem zweiten das vorherrschende Temperament notwendigerweise einen Zusammenklang zwischen den widerstreitendsten Elementen stiftet. Ein Leben mag noch so sehr jedes Zusammenhangs entbehren, die Einheit des Menschen wird dadurch nicht gestört. Könnte man jedes Echo der Erinnerung gleichzeitig mit allen anderen heraufrufen, sie würden zusammen ein Konzert bilden, ein angenehmes oder ein schmerzhaftes, jedenfalls ein logisches und ohne ohne Dissonanzen. Von einem plötzlichen Unfall überrascht, vom Wasser jäh erstickt und in Todesgefahr, haben Menschen oft das ganze Theater ihres vergangenen Lebens sich erhellen gesehen. Die Zeit war vernichtet, und einige Sekunden hatten genügt, eine Fülle von Gefühlen und Bildern, die Jahren gleichkam, zu enthalten. Das Seltsamste an dieser Erfahrung, die der Zufall, mehr als einmal hervorgerufen hat, ist nicht die Gleichzeitigkeit so vieler Erlebnisse, die nacheinander stattgefunden hatten, sondern das Wiedererscheinen alles dessen, von dem der Mensch selber nichts mehr wußte, das er jedoch genötigt war als ihm eigentümlich wiederzuerkennen. Das Vergessen ist also nur eine Sache des Augenblicks; und bei solchen feierlichen Anlässen, im Tode vielleicht, und gewöhnlich in den Zuständen hoher Erregtheit, wie das Opium hervorruft, entrollt das ganze ungeheure und schwer zu entziffernde Palimpsest des Gedächtnisses sich auf einen Schlag, mit all seinen überlagernden Schichten erstorbener Gefühle, die dort geheimnisvoll einbalsamiert liegen in dem, was wir Vergessen nennen.
Charles Baudelaire, Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden, Hrsg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 6, Die Künstlichen Paradiese. Opium und Haschisch, VIII Visionen in Oxford, Das Palimpsest, S.174 f., München Wien 1989.