Urhütten der Moderne / Primitive Huts of the Modern Age
Martin Heidegger’s Cabin. Todtnauberg, Germany 1922. Pius Schweitzer
Henry David Thoreau’s Cabin. Walden Pond, USA 1845. Henry David Thoreau
Cabanon. Roquebrune-Cap-Martin, France 1951-1952. Le Corbusier
Co-op Interieur. Germany 1926. Hannes Meyer
„I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived. […] I wanted to live deep and suck out all the marrow of life, to live so sturdily and Spartan-like as to put to rout all that was not life, to cut a broad swath and shave close, to drive life into a corner, and reduce it to its lowest terms, and, if it proved to be mean, why then to get the whole and genuine meanness of it, and publish its meanness to the world; or if it were sublime, to know it by experience, and be able to give a true account of it in my next excursion.“ Henry David Thoreau, Walden
Todtnauberg, Roquebrune-Cap-Martin, Walden Pond, Co-op Interieur - vier Beispiele von Orten produktiver Einkehr. Gemeinsam ist diesen Minimalarchitekturen, dass mit ihnen der Versuch unternommen wurde, Orte zu schaffen, die als quasi exterritoriale Gebiete die Möglichkeiten für ihre Bewohner boten, ihren urbanen Alltag hinter sich zu lassen. Dennoch repräsentieren diese Architekturen keinesfalls eine Flucht ins Idyll überschaubarer Lebenszusammenhänge, sondern dienten vielmehr der Ermöglichung des geistigen Experiments durch radikale Reduktion der eigenen Lebensumgebung. Lag doch weder die Hütte des Philosophen Heidegger in Todtnauberg, noch jene Thoreaus, noch Le Corbusiers Cabanon wirklich fernab der Zivilisation, sondern in deren unmittelbaren Randbereichen - von Hannes Meyers Entwurf einmal abgesehen, der seine enorme ästhetische Wirkung dadurch erhielt, einen zentralen Bereich des gesellschaftlichen Lebens - die Wohnung - in maximaler Reduktion neu zu interpretieren. Martin Heidegger beschreibt die stimulierenden Effekte der selbstgewählten Beschränkung und der Einkehr auf seine philosophische Tätigkeit 1933 in „Schöpferische Landschaft. Warum bleiben wir in der Provinz“. Arbeitet sich dieser Text in beinahe klassische Weise an der Stadt-Land-Dichotomie mit den für die Zeit üblichen Argumentationslinien ab, zeigt sich in Heideggers Unterscheidung von Alleinsein und Einsamkeit das Potential bewussten Verzichts: „Die Städter wundern sich oft über das lange, eintönige Alleinsein unter den Bauern zwischen den Bergen. Doch es ist kein Alleinsein, wohl aber Einsamkeit. In den großen Städten kann der Mensch zwar mit Leichtigkeit so allein sein, wie kaum i r g e n d w o s o n s t. Aber er kann dort nie einsam sein. Denn die Einsamkeit hat die ureigene Macht, daß sie uns nicht vereinzelt, sondern das ganze Dasein loswirft in die weite Nähe des Wesens aller Dinge."
Durch das Konzept der Reduktion als Grundlage der Möglichmachung des Denkens im eigentlichen Sinne, losgelöst von den Alltagsdingen der bürgerlichen Gesellschaft, lässt sich eine Verbindung zu Walter Benjamin herstellen. In seinem berühmt gewordenen Aufsatz „Erfahrung und Armut“ thematisiert Benjamin die Entfremdung von den hohl gewordenen Symbolen der bürgerlichen Gesellschaft. Benjamin wirft die Frage auf: „Denn was ist das ganze Bildungsgut wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet? Wohin es führt, wenn sie geheuchelt oder erschlichen wird, das hat das grauenhafte Mischmasch der Stile und der Weltanschauungen im vorigen Jahrhundert uns zu deutlich gemacht, als daß wir unsere Armut zu bekennen nicht für ehrenwert halten müßten.“
Im Erleben der Katastrophe des 1. Weltkrieges erkannte Benjamin einen epochalen Verlust an Erfahrung, der die Menschen „nicht reicher“, sondern „ärmer“ gemacht hatte. Doch in der damit einhergehenden Sprachlosigkeit die ästhetischen, ethischen und spirituellen Verbindungen in die Vergangenheit der Menschheitsgeschichte betreffend, die sich ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur latent, sondern unübersehbar in der Gesellschaft manifestierten, erkannte Benjamin ein produktives Potential. Die an Menschheitserfahrungen verarmten Menschen repräsentierten für ihn eine „neue Art von Barbarentum“, das sich durch einen semantischen Umwertungsprozess für Benjamin zu einem „positiven Begriff“ entwickelte, denn wohin bringt die „Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei weder rechts noch links zu blicken. Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten. Sie wollten nämlich einen Zeichentisch haben, sie sind Konstrukteure gewesen.“
Der Barbar wird bei Benjamin zum eigentlichen Gestalter, zum Konstrukteur der neuen Zeit. Eine Tätigkeit die ihm erst durch die Reduktion auf seine eigentliches Selbst möglich wird, erst im Ablegen des kulturellen Ballasts entsteht die Möglichkeit einer neuen Kultur, denn es ist nicht so “als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, daß etwas Anständiges dabei herauskommt.“
Diese kurze Zusammenstellung geht zurück auf die sehr hörenswerte Vorlesungsreihe „Heidegger in der Moderne“ von Prof. Günter Figal an der Universität Freiburg --> Link
„Erfahrung und Armut“ in: Tiedemann; Schweppenhäuser (1991): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften, Band II, Suhrkamp, Frankfurt am Main, S.213-219
„Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?“ in: Klostermann (1983): Martin Heidegger. Gesamtausgabe, I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Band 13, Klostermann, Frankfurt am Main,