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Le Aérostat

@leaerostat / leaerostat.net

Le Aérostat is curated by Stefan Staehle with a focus on early modernist architecture and architectural theory.
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Inseln im Datenstrom

Die Digitalisierung ist nicht nur Teil unseres Alltags geworden, sondern wirkt auch direkt auf unsere gebaute Umgebung. In einer Zeit, in der sich der Umgang mit Informationen zunehmend digitalisiert, stellt sich vor allem für die Bibliothek die Frage nach ihrer Existenzberechtigung. Dabei geht ihre gesellschaftliche Funktion weit über das Sammeln, Bereitstellen und vermitteln von Wissen hinaus. "Es gibt keinerlei praktisches Hindernis für die Erschaffung eines funktionierenden Verzeichnisses alles menschlichen Wissens, aller Gedanken und Ideen und Errungenschaften. Also für die Erschaffung eines vollständigen, weltumfassenden Erinnerungsspeichers für die gesamte Menschheit", konstatierte der britische Schriftsteller und Science-Fiction-Pionier H.G. Wells 1938. Doch bis zur Realisierung seiner Vision des allumfassenden ,,World Brains" sollten noch 60 Jahre vergehen, ehe erschwingliche Personal Computer und deren globale Vernetzung durch das World Wide Web die dafür erforderlichen Grundlagen schufen.

H.G. Wells ,,World Brain" ist heute Wirklichkeit geworden - Computer, Tablets und Smartphones ermöglichen uns ständigen Zugang zum digitalen Datenstrom. Doch nicht nur der Löwenanteil der tagtäglich bereitgestellten Informationen gelangt auf diesem Wege zu uns, - der wöchentlichen Auflage des ,,Spiegels" von 910.000 Exemplaren stehen monatlich 173.000.000 (!) Seitenaufrufe des dazugehörigen Onlineangebots gegenüber. Durch die Digitalisierung bereits vorhandener, physisch gebundener Wissensbestände öffentlicher Bibliotheken und Archive vollzieht sich vor unseren Augen eine gewaltige Migrationsbewegung hin zur Sphäre des Digitalen. Deren vorläufigen Höhepunkt markierte die Ankündigung des Internetunternehmens Google, bis zum Jahre 2015 mehr als 15 Millionen Bücher - das entspricht in etwa 4,5 Milliarden beschriebenen Seiten - zu scannen, zu indexieren und über die firmeneigene Suchmaschine zugänglich zu machen.

Der Phasenwechsel von der physischen in die digitale Welt macht Informationen mobil und global verfügbar. Für die Nutzer bieten sich neue Chancen. sich Wissen anzueignen, das noch bis vor Kurzem außerhalb ihrer persönlichen Reichweite lag. Gleichzeitig stellen diese Vorgänge die Existenz von Orten, an denen Wissen heutzutage gespeichert und aufbewahrt wird, konkret von Archiven und Bibliotheken, infrage. Debatten über die räumlichen Auswirkungen der Digitalisierung beschäftigen Architektenschaft wie Feuilletons der Republik seit geraumer Zeit: Von der Bibliothek als Auslaufmodell ist da zu lesen. Sie müsse sich sowohl für digitale Angebote öffnen, als auch serviceorientierter werden. Aber eigentlich sei sie ein hoffnungsloser Fall. Ein Verlierer der Geschichte, dem dasselbe Schicksal zuteilwerden wird wie dem gedruckten Buch.

Um es vorwegzunehmen, das große Bibliothekensterben ist bis heute ausgeblieben. Jährlich besuchen rund 200 Millionen Menschen eine der 8000 Bibliotheken in Deutschland und entleihen dabei 470 Millionen Medien. Spektakuläre Neubauten, wie das Jacob-und-Wilhelm-Grimm-Zentrum in Berlin von Max Dudler oder Herzog de Meurons Universitätsbibliothek in Cottbus, machen deutlich: Auch in Zeiten digitalisierten Wissens scheint noch immer ein elementarer Wunsch nach konkreten Orten zu bestehen, in denen Wissen für den Menschen zugänglich und erfahrbar wird. Denn Ordnen und Katalogisieren bilden die Kernkompetenzen einer jeden Bibliothek und machen für uns Nutzer eine sinnvolle Verwendung von Wissen überhaupt erst möglich. Eine Aufgabe, deren gesellschaftliche Relevanz im Angesicht exponentiell steigender Datenmengen nicht hoch genug zu schätzen ist. Bis heute ist die Bibliothek eine Erfolgsgeschichte, hat sich als überaus robust gegenüber gesellschaftlichen Umbrüchen und Neuerungen erwiesen. Sie stelle ,,das kostbarste Monument einer Nation dar" schrieb 1785 der französische Architekt Étienne-Louis Boullée und gab damit der besonderen Wertschätzung dieser Bauaufgabe Ausdruck. Die Bibliothek avancierte zum Symbol der Aufklärung und zum emblematischen Bauwerk der architektonischen Moderne: Ob Henri Labroustes Bibliothek Sainte-Geneviève, Ivan Leonidovs Konzept für das Lenin-Institut in Moskau oder Le Corbusiers Mundaneum, stets vereinte sich in diesen Entwürfen der Wunsch, Fortschritt und Geschichte zu verbinden, gesellschaftliches Wissen zu bewahren und an kommende Generationen weiterzugeben.

Auch wenn ihre Existenz heute nicht grundsätzlich infrage gestellt ist, wird die fortschreitende Digitalisierung für die Bibliotheken nicht ohne Folgen bleiben: Toyo Itos Mediathek in der japanischen Stadt Sendai und das Rolex Learning Center des Architektenduos SANAA in Lausanne lassen in ihrer organischen Transparenz Leitmotive zukünftiger Gestaltung erahnen. Die okkulten Bücherburgen der Vergangenheit sind durchlässig geworden. Als zeitgenössischer Ausdruck der Wissenskultur haben sich Bibliotheken von Informationslagerräumen zu Knotenpunkten des globalen Wissens gewandelt - Mediatheken, in denen Besucher neben Büchern ein Zusammenspiel unterschiedlicher Kommunikations- und Medienformate vorfinden.

Die Transformation der technischen Medien hat dabei nicht nur die Darstellung des Raumes verändert, sondern auch die Art, wie wir ihn heute denken, wahrnehmen und entwerfen. Der traditionelle Raumbegriff, der stets an ein bestimmtes Medium gebunden war, muss im Angesicht aktueller Entwicklungen neu verhandelt werden. Gleichzeitig erweitert die zunehmende Individualisierung der Nutzerinteressen das Raumangebot des traditionellen Nebeneinanders von Lesesaal und Magazin. Eine differenzierte Raumfolge, die vor allem durch Zonen des Übergangs zwischen verschiedenen Tätigkeiten, Kontakt- und Ruhezonen charakterisiert ist, wird das Raumprogramm der zukünftigen Bibliothek entscheidend prägen.

Neben gestalterischen und medientheoretischen Überlegungen rückt die Gestaltung von Bibliothek aber auch aus einem weiteren Grund in den Fokus aktueller Debatten. lm zeitgenössischen städtischen Umfeld, in dem Belange des öffentlichen Raumes mit einem immer stärker werdenden Privatisierungsdruck und gesellschaftlichen Kontrollmechanismen kollidieren, die Passagen von Shopping-Malls zunehmend überwachte Zonen etablieren, bietet die Bibliothek ihren Nutzern einen geschützten Rückzugsort.

Der französische Philosoph Michel Foucault bezeichnet diese besonderen Zonen als "Heterotopien", Räume, in denen gewohnte gesellschaftliche Regeln außer Kraft gesetzt sind, in denen eigene Gesetze herrschen. Bibliotheken bilden in diesem Sinne inklusive Orte, Orte, an denen Kontemplation und kreativer Widerstand möglich werden und in denen sich Wissen von äußeren Zwängen befreit: In ihnen manifestiert sich das Ideal gesellschaftlicher Teilhabe.

H.G. Wells Glaube an wissenschaftliche Segnungen, wich zum Ende seines Lebens kolossaler Ernüchterung. Seines Erachtens machte die zunehmende Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt produktiven geistigenFortschritt unmöglich. Vielleicht würde er seine Meinung heute ändern, denn trotz der unermesslichen globalen Datenflut existieren noch immer Orte, an denen Nachdenken, Kontemplation und Muße möglich sind.

Erschienen in: Portal 28, Bildungsbauten (2013)

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